René Maertz

Logik der Gedanken Logik der Gefühle

Unsere Regierung hat eine ETUDE SUR LE CANTON DE CLERVAUX erstellen und veröffentlichen lassen.

Keine andere, in der Ausdehnung vergleichbare Gegend, ist in unserem Lande so benachteiligt und in allen Bereichen solchermaßen gefährdet wie der Kanton Clerf und einige umliegenden Gemeinden.

Dieser Gedanke dürfte die Quintessenz der obengenannten Studie darstellen.

Darüberhinaus stellen wir fest, daß, wie in kaum einer anderen Region, die Hilflosigkeit, die Resignation, die menschliche Verlorenheit so unerwartete Ausmaße annimmt.

Diese Region benötigt, wie keine andere, einen neuen Atem.

Ermöglichen wir Hoffnung: durch Tatsachen!

VORBEMERKUNGEN

Bei der Diskussion und Auswertung der « Studie” kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß die strukturierte Wahrheit sich an der schweren, lebensvollen Wirklichkeit stößt: aus der Ferne betrachtet scheinen die höchsten Berge klein. So auch die Öslinger Koppen.

Zur Diskussion steht die Frage nach dem sozialen Überleben der Menschen in einem Gebiet dessen Oberfläche immerhin 12 % des nationalen Territoriums beträgt. « Bloß” ein Achtel könnte zum bloßen Achtel werden. Das ist sicher kein « Zweckgespenst”, deren soviele in unserer Zeit geboren werden. Dieses vorerst langsame Abdriften und dann dieser, nach Erreichen einer « kritischen Schwelle”, plötzliche und vehemente Absturz in die soziale Wüste (Studie, Seite 8) kann durchaus als ernstzunehmende Hypothese gelten. Man darf in dieser Sache keine Illusionen mehr hochpäppeln: falls die bisherige Entwicklung sich fortsetzt, könnte der Punkt, nach dem es keine Wiederkehr gibt, erreicht werden. Es liegt nicht in der Absicht der Regierenden, die Lage so weit verkommen zu lassen. Im Gegenteil! Doch unsere Problematik läßt sich nicht aussitzen: Das Kissen des « Es ist bis heute so gegangen, warum sollte es nicht so weitergehen” dürfte doch zu heiß werden. « Si rien n’est entrepris, la situation continuera à évoluer défavorablement” liest man am Schluß der Studie (S. 29). Sie macht damit eindeutig auf wirtschaftspolitische Versäumnisse aufmerksam, ebenso wie auf die Gefahr eines Zusammenbruchs. Im Grunde ist diese Studie herrlich herausfordernd: durch ihre Widersprüchlichkeiten, durch das was zwischen den Zeilen zu lesen ist und durch ihre Lücken. Die Sprache kann auch als Schleier dienen. Als Schleier, der die Wirklichkeit weniger deutlich erscheinen läßt. Wörter und Worte verlieren dabei aber zusehends ihre Masken. Das Problem Nordösling war und ist zugleich eine

VERTRAUENSKRISE.

Restlos garantieren vermag freilich niemand soziale und menschliche Sicherheit. Trotzdem vermißt man fast schmerzlich jenen kreativen Impuls, der den Öslingern einen redlichen, wenn auch noch so schwachen Anlaß zur Wiederbelebung ihres Selbstgefühls vermittelt hätte. Doch der eigene Schatten hat seine Kanten und Tücken.

Desungeachtet dürfte man die Tatsache, daß die Studie überhaupt in Angriff genommen und veröffentlicht wurde, als positiv bewerten. Allerdings wird erst die Auswertung dieser Negativbilanz und deren Umsetzung in handfeste Raumplanung den politischen Willen und dessen Überzeugungskraft wirklich herausfordern.

Die vorliegende Studie ist durch Experten der vier Ministerien erstellt. Somit basiert sie vor allem auf den Gesetzen und Verordnungen, die sich auf die Landesplanung beziehen. Dies erklärt auch, warum sie kaum Vorschläge anbietet, die den heute gültigen landesplanerischen Rahmen sprengen würden. Das Dokument zeichnet sich nicht durch zukunftsträchtige Perspektiven oder durch Innovationsfreude aus. Kühl und konform gibt dieses Papier Analysen, Relationen, Tabus und timide Lösungsvorschläge. Die wesentliche Frage ist, ob es mit dem durch die heutige Landesplanung vorgegebenen Instrumentarium überhaupt eine Überlebenschance für das Ösling gibt. Wir bezweifeln dies.

Zum anderen stellt sich die Frage, ob ein verhältnismäßig kleines Land es sich leisten kann, es sich leisten darf, einen so verhältnismäßig großen Teil eventuell der « desertification humaine” zu überantworten. Für die Luxemburger Nation könnte dies unübersehbare Folgen haben.

In eigener Sache möchten wir wiederholen, daß « de Cliärrwer Kanton” weder beabsichtigte noch beabsichtigt, sich vor den parteipolitischen Karren spannen zu lassen. Dazu erinnern wir wie in der Pressekonferenz am 23.04.1979 gelegentlich der Gründung des « Cliärrwer Kanton” unmißverständlich unterstrichen, in welchem Maße sich das Kulturelle und das Soziale gegenseitig bedingen. Unter diesem Blickwinkel versuchen wir einige wesentliche regionalpolitische Impulse zu geben, in der Hoffnung, uns selbst auf diesem Gebiete überflüssig zu machen. Aus unserer Sicht wäre es notwendig, daß ein regional orientiertes Gremium die notwendigen Impulse für die Wiederbelebung des Nordöslings gäbe. Wie dem auch sei, « de Cliärrwer Kanton” wird wie bisher, peinlich darauf achten, die Diskussion objektiv, fair, aber mit der notwendigen Deutlichkeit und Hartnäckigkeit zu führen. Man wird bei uns wohl kaum blinde “Ja”sager finden, wohl aber selbständige Menschen und Mitbürger.

Die GRUNDFRAGEN

Der Impuls zur Studie ging vom « Cliärrwer Kanton” aus. Im Dezember 1981 richtete er ein Schreiben, das von der Mehrzahl der Norddeputierten und der Bürgermeister durch ihre Unterschrift unterstützt wurde, an den Herrn Staatsminister. In diesem Brief wurde eindringlich auf die Problematik des Nordkantons hingewiesen. Daraufhin beschloß die Regierung, die Studie über den Kanton Clerf zu erstellen.

Am 6ten Januar 1984 hat Staatsminister Werner einer Delegation des « Cliärrwer Kanton” die Studie überreicht. Das Papier umfaßt 37 Seiten, einschließlich der Tabellen, der graphischen Darstellungen und der Landkarten. – Gelegentlich der Übergabe des Dokumentes betonte der Regierungschef, es handle sich vor allem um eine « Studie” und nicht um einen fertigen Entwicklungsplan. Dieser sei wohl eher im Zusammenhang mit einem Gesamtplan zu sehen. Im Grunde enthalte die Studie keine fundamental neuen Aspekte. Kurzfristig seien auch keine größeren Entscheidungen zu erwarten. Beabsichtigt sei hingegen eine « Table ronde” mit den politisch Verantwortlichen.

Der Sprecher der Delegation des « Cliärrwer Kanton” dankte dem Premierminister und der Regierung sowohl für die Erstellung der Studie als auch für das Aufzeigen einiger positiver Aspekte, besonders aber für die offizielle Feststellung der eindeutig negativen Aspekte für die soziale und wirtschaftliche Konsolidation oder Wiederbelebung der Gegend. Ein wenig überrascht sei die Vereinigung auch über die Tatsache, daß die Studie keine Bestandsaufnahme auf kulturellem Gebiet bringe.

Zum besseren Verständnis der Nordöslingfrage und ihrer wesentlichen Aspekte trägt ein kurzer

historischer Exkurs

bei. Die Nordöslingfrage datiert nicht erst seit gestern und heute, sondern seit Beginn der Jahrhundertwende. Damals begann die erste kaum erkennbare Mechanisierung der Landwirtschaft bei gleichzeitigem Verschwinden der Leder- und Textilindustrie. Seither gibt es die demographische Talfahrt: seit 1900 rund 40% Verlust, hauptsächlich durch erzwungene Abwanderung hervorgerufen. Nach dem ersten Weltkrieg sahen einige politisch Verantwortliche die Gefährdung unserer Region. Das vor allem durch die globale Problematik eines landwirtschaftlich bestimmten Randgebietes. Der Abbau der Arbeitsplätze bei simultaner Abwanderung vieler Arbeitskräfte wurde nur von den wenigsten, meist aus recht vordergründigen Motiven, als kurzfristig bedrohlich angesehen. Man produzierte damals ja genügend… Arbeitskräfte.

Tatsächlich schob und schiebt man ständig das Nordösling-Problem vor sich her, wohl in der Hoffnung, daß es sich von selbst löse. Es wurde, mit der Konsequenz der Sorglosigkeit, ein

Teufelskreis

ein « cercle vicieux” heraufbeschworen. Das Nichtkönnen verbarg wohl das Nichtwollen.

In der Tat hören wir nicht erst seit gestern sondern seit Jahrzehnten:
Es können keine Arbeitsplätze geschaffen werden, weil keine Arbeitskräfte vorhanden sind. – Und: es sind keine Arbeitskräfte vorhanden, weil keine Arbeitsplätze zur Verfügung stehen.

Tragikomisch. Wie die Geschichte jenes vorverurteilten Wilhelm Voigt, der in Luxemburg seine letzte Ruhe gefunden hat: als Wilhelm Hauptmann von Köpenick durfte er nicht… weil er nicht hatte; und hatte nicht… weil er nicht durfte.

Es wird sich darum handeln müssen, diesen Teufelskreis, der ebensoviele sozialpolitische wie ökonomische Komponenten hat, zu durchbrechen. Zu durchbrechen in einer Zeit, die von einer schweren, strukturellen Wirtschaftskrise betroffen ist. In einem Land, wo wohl die meisten Landesteile ähnliche Forderungen an die Verantwortlichen stellen. In einem Land, wo ein Großteil der Bevölkerung nicht eben das allerstärkste Interesse für diese Gegend zeigt, noch zeigen kann. – Doch wäre eine gezielte, ausgewogene Intervention seitens der Regierung nicht einfach eine Sache des politischen Ausgleichs? Eine Sache der ausgleichenden Gerechtigkeit?

Die Regierung hatte eine Studie in Auftrag gegeben, die im Rahmen des « Programme directeur de l’aménagement du territoire”, Maßnahmen vorschlagen sollte, um das Gleichgewicht der gesamten Nordregion (d.h. der Nordkantone) vorzuschlagen. Die folgenden Aspekte sind dabei berücksichtigt worden: Verkehrswege, Implantation neuer Industrien, Abzug der Verwaltungen, sozialer Wohnungsbau, touristische Infrastruktur, Landwirtschaft, Sportinfrastruktur, Erziehung, Gesundheit. Aufgrund dieser Angaben wurde es der Regierung ermöglicht, gewisse Schlußfolgerungen zu ziehen, bezüglich der Maßnahmen, die es ermöglichen sollen, die allgemeine Situation im Kanton Clerf zuerst zu stabilisieren und dann zu verbessern.

Bevor wir einige wesentliche Ergebnisse hervorheben, sei bemerkt, daß unsere Forderungen und Vorschläge keineswegs einem Konkurrenzdenken entsprungen sind. Ebensowenig wird versucht, eine Abkapselung der Region ins Auge zu fassen.

1. PROGRAMM und PLAN

Wie schon weiter oben angeführt, beruft sich die Studie öfters auf die verschiedenen Reglemente der Landesplanung. Desweiteren wird versucht, von einer « künstlichen Opposition” zwischen verschiedenen Landesteilen zu warnen. Im gleichen Sinne sagt die Studie, es gehe nicht um ein regionales oder interregionales Problem, sondern um ein rein intraregionales, suprakommunales Problem.

Diese Gedanken scheinen auf den ersten Blick richtig. Doch haben sich bei der Erstellung des « règlement grand-ducal du 2 février 1981 déclarant obligatoire le plan d’aménagement partiel portant création de zones industrielles à caractère national dans les régions du pays autres que le sud” (Mém. A N° 20 – 11 avril 1981) ebenso wie gelegentlich der Diskussion des « programme directeur” bereits Stimmen erhoben, die vor der Gefahr der durch diesen Plan geförderten übermäßigen Ausdünnung der Bevölkerung im Hochösling warnten. Damals haben wir diese Gefahr unterschätzt. Die meisten Einheimischen hatten wohl gehofft, daß die Pendler Pendler blieben. Viele von ihnen sind aber anderswo ansässig geworden; und zwar näher an ihren Arbeitsplätzen. Das ist durchaus verständlich. Doch all jene Bewohner, die tagtäglich die Misere der Abwanderung, des gespenstischen sozialen Ablebens dieser Gegend vor Augen haben, glauben nicht mehr an die Ausgewogenheit jener Pläne und Programme, die der Studie zugrunde liegen. In einem gewissen Sinne ist dieser Teil der Studie nur eine verwässerte, nicht gerade so krasse Wiedergabe des oben angeführten Reglementes. Es scheint als seinen « Verdichtung” der Bevölkerung, « Urbanisation” der Bevölkerung in denen vom Goldfinger berührten « zones nationales” ein Tabu. Auch die hehre Absicht « de rapprocher les industries de la population” (Mém. cit. S. 552) war doch wohl so ernst nicht gemeint. Fest steht: das Gegenteil wurde meist erreicht. Die Bevölkerung ist zu den Industriezentren geflohen. Erreicht ein Plan das Gegenteil dessen was beabsichtigt war, so stimmt etwas nicht. Es bleiben dabei eine Reihe von Hypothesen.

Eine (politische) Aktion wird wohl doch an ihren Resultaten gemessen. Für den Nordkanton war diese Planung eine Katastrophe. Der eisige Ökonomismus hat den Faktor Mensch nur teilweise berücksichtigt.

Wirtschaftlich und sozial sehen die Experten den Kanton eingebunden in die « zones industrielles à caractère national (Bissen, Colmar-Berg, Ettelbruck, Diekirch, Erpeldange/Wiltz)”. Doch: einzig sein rapider Niedergang trennt den Kanton Clerf von den s.g. nationalen Industriezonen.

2. Die Spezifität (die Eigenart) unserer Region

Die Studie spricht nicht deutlich von der Spezifität der Lage des Kantons. Dieser Begriff scheint nicht akzeptabel. Umso erstaunlicher ist es, daß bei der grundlegenden Raumplanung unmißverständlich von einer « spécifité des problèmes” im Zusammenhang mit einer besonderen Berufung (« vocation particulière”) der verschiedenen Regionen gesprochen wird (oben zitiertes Reglement vom 2.02.1981, S. 552). – In der Studie werden bemerkenswerterweise die Probleme aller Regionen in einen Topf getan. Damit sollte der Nordkanton zum ländlichen Vorort der Industriezonen auserwählt sein.

Wohl wird zugestanden, daß der Nordkanton « exzentrisch » zum Regionalzentrum Ettelbrück-Diekirch und zum übrigen Land liegt. Eine besondere Bedeutung möchte die Studie der Entwicklung durch eine Öffnung (« désenclavement”) zumessen. Über die klimatischen Bedingungen, die das Pendlerdasein während der schlechten Jahreszeit zum Abenteuer machen, schweigt sich die Studie aus. Auf die Originalität des Problems weist die Studie indirekt durch die Aufzählung der

3. Minusrekorde im Vergleich zu ändern ähnlich ausgedehnten Regionen hin:

  • flächenmäßig der größte Kanton (332 km2) in dem 2,6 % der Bevölkerung leben.
  • dadurch ergibt sich die geringste Bevölkerungsdichte.
  • regelmäßiger und weiter beschleunigter Bevölkerungsrückgang, der in absehbarer Zeit zum Zusammenbruch führen kann.
  • auf den Landesdurchschnitt bezogen, die höchste Zahl von Menschen, die mehr als 50 Jahre alt sind (37 %).
  • eine immer dünner werdende Bevölkerungsschicht im Alter von 25 bis 45 Jahren.
  • die kumulierte Abwanderung der Eltern von heute mit ihren Kindern, d.h. der Eltern von morgen.
  • die Abnahme der Arbeitsplätze in der Landwirtschaft durch Rationalisierung.
  • die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze genügt nicht, um den Kräften, die in der Landwirtschaft frei werden, in der Region Arbeit zu geben
  • laut Studie machen verschiedene Gründe (wie Randlage des Gebietes, Infrastrukturmängel, Arbeitskräftemangel usf.) eine Einpflanzung von Mittelindustrien recht unwahrscheinlich, um nicht zu sagen unmöglich. – Diesbezüglich sei aber bemerkt, daß Arbeitsplätze Arbeitskräfte anziehen. Im übrigen wären hierzulande kaum je Industrien entstanden, wenn man ausschließlich auf die in der engeren Umgebung vorhandenen Arbeitskräfte gesetzt hätte.

Diese Liste ließe sich fortsetzen. Die Studie bestätigt offiziell unsere seit Jahren geäußerten Befürchtungen.

In der Studie wird desweiteren die Absicht der Regierung hervorgehoben, außer Landwirtschaft und Tourismus, die als Grundlagen der Wirtschaft anzusehen seien, auch ein Minimum an Aktivitäten in Industriebetrieben und im Dienstleistungssektor als notwendig anzusehen. Der Grund: damit der Kanton nicht jene schon angesprochene « kritische Schwelle” erreiche. Zur Definition dieser « kritischen Schwelle” gehört gleichermaßen der langsame, stetige Niedergang wie der heftige und plötzliche Zusammenbruch. Zum anderen bezeichnet dieser Gedanke jene Stufe(n) des Niedergangs, von der aus es nicht mehr möglich sein wird, jene Strukturen zu retten, die eine Gegend lebensfähig erhalten. Dazu gehören: Auflösung der Schulen; die Infrastrukturen werden nicht mehr unterhalten (Straßen, Wasserleitungen usf.), die Unternehmen und Geschäfte müssen schließen, die sozialen Dienste werden aufgegeben, Ärzte, Spitäler usf. verschwinden.

Nach Erreichen dieses Punktes gibt es kaum eine Wiederkehr. – Die Öslinger nehmen mit Genugtuung davon Akt, daß

  • die Gefahr des sozialen Kollapses nach Erreichen dieser sogenannten kritischen Schwelle existiert und erkannt wurde
  • die Verantwortlichen sich über diese Gefahr Rechenschaft geben.

Angesichts dieser nunmehr offiziell bestätigten bedrohlichen Situation stehen wir zu unserer Forderung, den notwendigen Hilfsmaßnahmen

4. eine Priorität einzuräumen.

Zeitverlust bedeutet in diesem Fragenkomplex, daß die existenzgefährdende Situation den Lösungsversuchen davonläuft.

Demgemäß muß es sich darum handeln, an der Klippe des marktschreierischen Aktivismus und dem Felsen des Zuspätkommens vorbeizumanövrieren. Wohlweislich kann man nicht allen Notlagen im Lande unverzüglich und gleichzeitig zuleibe rücken. Wir verstehen und akzeptieren, daß die Regierung (wie auch die folgenden Regierungen) der Restrukturation im Süden einen sehr kostenintensiven Vorrang eingeräumt hat. Wir erlauben uns aber zu fragen, ob die Notlage im äußersten Norden nicht ebenso finster ist, wenn auch die wirtschaftliche und politische Potenz beider Regionen nur schwer vergleichbar sind. Die Studie ist im Aufreihen der Negativfaktoren im Nordkanton so eindringlich, daß man sie auch als provokatorischen Notschrei ansehen könnte. Unsere oftmals vorgebrachte Forderung nach der gesetzlichen Schaffung einer « zone d’action prioritaire » im Kanton ging stets von einer im Vergleich zu anderen Landesteilen proportionalen Priorität aus. Oder darf man, auch in Krisenzeiten, alles in ein einziges Projekt investieren?

RETTUNGSMASSNAHMEN

Die Schlußfolgerungen, die von der Regierung (Kapitel 6) gezogen werden, beinhalten weder die Spezifität der Region noch die Dringlichkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen. Die Frage drängt sich auf, ob die Verantwortlichen, obschon sie die akute Gefährdung der Region klar festgestellt haben, nunmehr die Situation schleppend und resignativ weitertreiben lassen.

Die Studie gruppiert die « Kraftlinien der künftigen Aktion” unter drei Gesichtspunkten:

  1. Die Promotion der ökonomischen Aktivitäten: Landwirtschaft, Industrie, touristische Infrastruktur. In diesen Sektoren sind kaum neue Ideen hervorzuheben. Allerdings wird die Untersuchung der Möglichkeiten zur Schaffung einer Agrar-Nahrungsmittelindustrie, einer holzverarbeitenden Industrie sowie die Unterstützung des Handwerks ins Auge gefaßt. Eine wesentliche, weil ungewohnte Aussage betrifft allerdings die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Industrie, « indem, gegebenenfalls und gemäß den zur Verfügung stehenden Mitteln, besondere finanzielle Bedingungen bei der Instandsetzung von Grundstücken zwecks Industrieeinpflanzung, definiert werden.”
  2. Verbesserung der kollektiven Infrastruktur: Beibehaltung der Verwaltungen, Straßennetz, öffentliche Transporte, Unterricht, sportliche Infrastruktur, Gesundheitswesen. Keine sehr neuartigen Vorschläge.
  3. Sozialer Wohnungsbau: Informationskampagne über die vorgesehenen Hilfen.

Doch die besten und schnellsten Interventionen staatlicherseits werden wenig Früchte tragen, wenn die

Attraktivität, die Anziehungskraft

dieser Gegend nicht erhöht wird. Der Mensch und sein Lebensgefühl, sein Anspruchsniveau sind entscheidende Faktoren, die ein Regierungsprogramm nur bedingt zu beeinflussen vermag. Auch hier ist der Mensch der entscheidende Faktor.

Entscheidend im lebendigen Instrumentarium der Wiederbelebung wird es wohl sein, inwieweit es gelingt, in der Bevölkerung ein gewisses Maß an vernünftigem, zu rechtfertigenden

Vertrauen

in die Zukunft ihrer Gegend zu wecken und zu erhalten. In diesem Sinne müßte auch die Glaubwürdigkeit bei der Planung, der Ausführung und der Intensität der ökonomischen und sozialen Hilfsmaßnahmen zum Tragen gebracht werden.

Als weitere unerläßliche Voraussetzung für den Erfolg sieht die URBAPLAN-Studie den entschiedenen

Willen

der einheimischen Bevölkerung am Wiederaufschwung mitzuwirken. Diese Willensbildung käme einer Mobilisierung der geistigen und moralischen Kräfte gleich. Es wäre deshalb dringend erforderlich, alle Gemeinden, die Ortsvereine, den Handel, die Unternehmer, die Jugendclubs usw. über die Überlebensfrage zu informieren, gemeinsam Perspektiven zu öffnen und klare Initiativen zu ergreifen. Das ist jedenfalls ein Teil des Preises, der zu zahlen sein wird; denn auf eines kann man sich verlassen: es wird uns nichts geschenkt.

Von unserer Bevölkerung muß der kreative Impuls ausgehen. Konkrete Maßnahmen vorschlagen, Lösungen finden, das sollte ebenfalls Sache der Bevölkerung, besonders aber ihrer gewählten Vertreter sein.

Spätestens hier stellt sich die (über-) lebenswichtige Frage, nach der interkommunalen Zusammenarbeit. In der Tat wäre es nicht abwegig zu glauben, daß angesichts des geringen finanziellen und menschlichen Potentials der Nordgemeinden, eine ganz enge interkommunale Zusammenarbeit Resultate zeitigen könnte, die anders nicht möglich wären. Es wäre auch ein Akt der Selbstbehauptung, aus realpolitischer Einsicht geboren.

Im Grunde handelt es sich darum, ein geistiges Klima zu schaffen, nicht gegen alle Verantwortlichen gerichtet, aber für unsere Region, für unsere Heimat.

Ein Staatsschiff ist ein langsames Schiff. Es trägt stets die Strukturen und die Verpflichtungen der Vergangenheit. Die sind so groß, daß nur ein relativ geringer Teil neuen, dringlichen Projekten gewidmet werden kann.

Wir verlangen somit auch nicht das Unmögliche: daß alles gleich und gleichzeitig angepackt werden müßte. Doch müßte die Unverwechselbarkeit der zu setzenden materiellen Zeichen mit deren geistigem und moralischem Impakt übereinstimmen.