René Maertz

Bilanz und Ausblick

Widerstandsfähig sind manchmal längst Totgesagte. Als die Vereinigung “DE CLIÄRRWER KANTON” vor nunmehr fünf Jahren gegründet wurde, veranschlagten viele deren Lebenserwartung auf etwa zwei Jahre. Die Redaktion und die Veröffentlichung unserer Zeitschrift, die finanzielle Belastung, die Vielzahl und die Vielfalt unserer Vorhaben, die durchaus zu erwartenden Abnutzungserscheinungen und Meinungsverschiedenheiten im Rahmen einer Vereinigung ließen jene Befürchtungen aufkommen. Nicht erfüllte Prophezeiungen vergessen sich rasch. Kassandrarufe, deren Inhalt von der Wirklichkeit bestätigt wird, wachsen im Menschengeist zu Monumenten.

Deshalb verlangt das fünfte Wiegenfest geradezu nach einer Abrechnung.

DIE KULTURELLE AUFGABE

die der Cliärrwer Kanton sich gestellt hatte, konnte nur zum Teil in Angriff genommen oder gar erfüllt werden. Bewußt haben wir bei der Gewichtung der kulturellen Ziele die Herausgabe unseres Bulletins als vordringlich betrachtet. Dank des gleichermaßen befähigten wie arbeitsfreudigen Schriftleiters, Alex Jacoby, war es möglich, die Qualität unserer Zeitschrift zu bestimmen und zu halten. Es wäre wohl nicht abwegig zu glauben, daß die große Majorität unserer Mitglieder Niveau und Anspruch positiv bewerten. Zum anderen sind großenteils berechtigte Bemerkungen zu hören, die öfters ein betonteres Eingehen auf rein künstlerische Aspekte verlangen. Das sowohl auf dem Gebiet der Literatur wie auf dem der bildenden Kunst. Bisher war die Mehrzahl der Beiträge eher auf mehr historische Merkmale unserer Gegend ausgerichtet. Ein Stück Nostalgie, die in den meisten Menschen einer marginalen Region schlummert, mag zum Erfolg dieser Artikel beigetragen haben. Daß dabei mehr Monumente und Tatsachen aus der Feudal- und Kirchengeschichte hervorgehoben wurden, erklärt sich aus der vergleichsweise starken regionalen Dichte dieser Baudenkmäler und den historischen Gegebenheiten. Anderseits gestehen wir gerne zu, daß nur wenige Artikel ganz wertneutral waren. Sie können es doch nicht sein. Doch wurde sicherlich eine gewisse Ausgewogenheit erreicht.

Desweiteren geben wir uns darüber Rechenschaft, wie wenig wir in den fünf vergangenen Jahren zu einem weiteren Angebot an künstlerischer und kunstgewerblicher Ausbildung weitergekommen sind. Eine Anzahl von Gemäldeausstellungen, so gut und erfolgreich sie auch gewesen sein mögen, von Konferenzen und Vortragsabenden, genügt kaum, unsere Zielsetzungen zu erfüllen. Auf dem Gebiet der Geschichtsforschung und -Schreibung sind einige etwas zaghafte Anfänge gemacht worden. Doch dürfte man die geschichtsbezogenen Beiträge in den 5 Jahrgängen unserer Zeitschrift als eine beachtenswerte Summe von Fakten und eine Quelle neuer Möglichkeiten im Hinblick auf weitere geschichtliche Abklärung ansehen.

Fünf Jahre: Erfolg und Mißerfolg in ausgewogener Mischung. Gegenwärtig erreicht der CLIÄRRWER KANTON mit dem verfügbaren menschlichen und finanziellen Potential ein Ergebnis, das nur sehr schwer zu optimieren sein wird.

Vielversprechend sind die Ansätze einer Anzahl von Jugendvereinigungen dieser Gegend, die sich qualitativ hochwertigen Theateraufführungen widmen. Ebenso bemerkenswert ist die Tatsache, daß mehrere Vereinigungen sich neuerdings mit der Sammlung und Veröffentlichung lokaler Dokumentationen in Bild und Schrift beschäftigen. – Viel Erfolg!

Einen besonderen Dank möchte ich, im Namen unserer Mitglieder, an alle Autoren richten, deren Wort- und Bildbeiträge unserer Zeitschrift Gestalt gegeben haben. Ihre Sympathie für diese Gegend, ihre Fähigkeiten und ihr Arbeitswille verdienen unsere Anerkennung als Lohn für unbezahlbare, oft jahrelange Arbeit.

Das

GESELLSCHAFTLICHE ENGAGEMENT

des “Cliärrwer Kanton” hat seit seiner Gründung Anlaß zu Diskussionen gegeben. Bereits bei der Pressekonferenz gelegentlich der Vorstellung des Vereins wurde eine Offenlegung der speziellen ökonomischen und sozialen Lage des Kantons angekündigt. Die kulturelle Aktivierung einer Region schien ohne eine minimale demographische Konsistenz wenig sinnvoll. Infolgedessen hat die Vereinigung auch auf gesellschaftlichem Gebiet vom Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht: Konsequent Tatbestände hervorgehoben, tunlichst objektiv, ausgewogen und maßvoll. Ohne rein parteipolitische Präferenzen. Daß sich dabei der “Cliärrwer Kanton” – wie manche meinen – zu einem Sprachrohr für die Gegend entwickelt hat, war etwas überraschend aber doch wohl notwendig. Wie schon desöfteren hervorgehoben, begrüßen wir es sehr, daß nunmehr ein qualifiziertes Gremium, nämlich das SYNDICAT INTERCOMMUNAL POUR LA PROMOTION DU CANTON DE CLERVAUX, diese Aufgabe wahrnehmen wird. Jedenfalls sehen wir es als einen bemerkenswerten Fortschritt an, daß das Syndicat intercommunal (wie an anderer Stelle dieser Aufgabe ausgeführt wird) zusammen mit den Norddeputierten, die Wiederbelebung des Nordöslings voranbringen will.

Doch wäre es, aus der Sicht des Vereins, unverantwortlich, sich generell aller gesellschaftsrelevanten Themen von vornherein zu entziehen. Auch ein Verein sollte sich Freiheiten aussparen.

Der CLIÄRRWER KANTON hat in den verflossenen Jahren wohl maßgeblich dazu beigetragen, den Ernst der Nordöslingfrage aufzuzeigen. Von allen Seiten wird das Ziel erkannt: Hilfe für die Wiederbelebung des nördlichen Landesteils. Das Ziel ist hehr und erstrebenswert, so wie die Ziele meistens sind. Doch entscheidend sind Auswahl und Einsatz der Mittel, mit denen das Ziel erreicht werden soll.

Neuerdings scheinen sich einige unserer Befürchtungen zu bewahrheiten. Versuche, mittels variétéreifer gedanklicher Saltos, Nebensächliches als maßgebliche Faktoren der Wiederbelebung darzustellen, sollten genau auf ihre Stellung innerhalb eines Gesamtkonzepts, eines Gesamtplanes zur Reanimation untersucht werden.

Deshalb wird es sich darum handeln, bei jeder Diskussion, bei jeder Planung bezüglich der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Nordöslings die folgenden grundlegenden Gesichtspunkte zu beachten:

  1. Im Unterschied zu allen andern Landesteilen vergleichbarer Ausdehnung charakterisiert sich das Nordösling durch ein Maß an Gefährdung, das den endgültigen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch nicht ausschließt. Darin sind sich alle Untersuchungen einig. Somit beruhen diese Aussagen nicht auf Obsessionen des Nieder- und Untergangs, nicht auf einer Vorliebe für Schwarzmalerei. Sie zeigen nicht die Wahrscheinlichkeit, nicht die Sicherheit eines regionalen Zusammenbruchs auf, sondern bloß dessen Möglichkeit.
    Die zentrale Frage ist demnach nicht die nach BESSERLEBEN, sondern in erster Linie die nach dem ÜBERLEBEN dieses Landesteils.
  2. Die Attraktivität unserer Gegend für Investoren ist zweifellos sehr begrenzt. Die Anziehungskraft für Anleger wie auch für die (noch) einheimische Bevölkerung zu steigern, ist vordringlich. Sie bedarf, im Vergleich zu ändern Landesteilen, sehr kostenintensiver Maßnahmen. Eine seit langem vernachlässigte Infrastruktur verlangt eben kräftigere Impulse.
  3. Die Frage nach der Verantwortung für eine ernsthafte Inangriffnahme der wirtschaftlich-sozialen Neuorientierung im nördlichen Landesteil bleibt offen. Sie ist aber lebenswichtig. Denn, angesichts der bedrohlichen Situation und der Spezifität der Lage des Nordkantons ist das erprobte gegenseitige Zuschieben der Verantwortlichkeit überaus gefährlich. Aus diesem Grunde wäre die Benennung eines Koordinators für das Nordöslingproblem und die Schaffung eines kleineren, dynamischeren Gremiums /aus Regierungsvertretern, Parlamentariern und Repräsentanten des Syndicat durchaus erwägenswert.

Zieht man das Fazit aus den Tatsachenkomplexen und all den Problemen, sucht man nach einer Antwort auf die Fragen nach einer hoffnungsträchtigeren Zukunft, so kommt man zu dem Schluß: unser Überlebenswille ist unsere Überlebenschance.

Es wird dem Nordösling kaum etwas geschenkt werden. Die Initiativen müssen aus der Bevölkerung, von ihren gewählten Vertretern kommen, wie Stimmen aus den Machtzentren nicht müde werden, zu betonen.

Doch die Diskussionen und die ersten Entscheidungen über das neue Wirtschaftsförderungsgesetz haben uns weiter nachdenklich gemacht. Von einer spezifischen Nordöslingproblematik, von einem im Vergleich weit gravierenderen sozio-ökonomischen Ungleichgewicht, von speziellen Starthilfen und einem Gesamtkonzept bezüglich einer Konsolidierung geht darin kaum die Rede. – Man fragt sich, wie die wirtschaftlich ausgebluteten Nordgemeinden den Mut und die Mittel finden sollen, die erforderlichen Startinitiativen zu tätigen,

Eine spezifische Notsituation, wie sie sich im Kanton Clerf ergibt, erfordert doch wohl ein Paket von spezifischen Hilfsmaßnahmen. Mag sein, daß diese nur durch eine neue Gesetzgebung zu verwirklichen sind.

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Zur Jahreswende möchte ich den Gemeinderäten des Kantons, die durch ihre moralische und materielle Unterstützung die Verantwortlichen des Vereins ungemein ermutigt haben, unseren herzlichen Dank aussprechen.

An sie, an alle Mitglieder, richtet die Vereinigung “De Cliärrwer Kanton” die allerbesten Wünsche für das Jahr 1985. Sollte es im nächsten Jahr innerhalb des Vereinsvorstandes einige Verschiebungen in Richtung auf eine Verjüngung geben, so bitte ich doch alle Mitglieder, dem Verein weiterhin ihr Wohlwollen zu bewahren.