Léon Braconnier
Auf dem Weg zum Lehrstück
Fast könnte man meinen, jahrelanges Verweilen im Wartesaal Nordösling, anhaltendes, vergebliches Hoffen auf bessere Zeiten, müßten wohl auch dem Allerletzten zur Einsicht verhelfen, das Problem Nordspitze würde sich schließlich von allein lösen. Manchmal hat man fast den Eindruck, unser Versuch, die Aufmerksamkeit der Regierenden immer wieder auf die alarmierende Lage unserer Gegend zu lenken, sei in der Zwischenzeit zu einer Art Pflichtübung geworden, zu einem « Unter ferner liefen », von wenigen recht ernst genommen, und doch Teil eines Stückes, welches über das Tragikomische hinaus, auf dem besten Wege scheint, sich zu einem Lehrstück zu mausern. Wem es auf diesem glatten Parkett gelingen wird, sich die Gunst des Publikums zu verdienen, sei dahingestellt, auch die Zuschauer dürften verschiedene Erwartungen haben, peinlich könnte es für einige Akteure allemal werden, sollte eines Tages die Stunde der Bilanz schlagen.
Und doch scheinen vergangene Anstrengungen keinesfalls umsonst gewesen zu sein. Größte Bedeutung messen wir dem Versprechen des Staatsministers Jacques Santer bei, die Konklusionen der « Commission mixte » mit Aufmerksamkeit zu prüfen. Überhaupt stellt dieses Schlußdokument der Sonderkommission, welches wir auf den folgenden Seiten integral veröffentlichen, unsere in Worte gefaßte Hoffnung dar, hat doch der Staat Luxemburg, wenn auch nicht auf Regierungsniveau, erstmals unsere spezifische Notsituation nicht nur anerkannt, sondern auch unsere Forderung nach Prioritäten und koordinierten Maßnahmen übernommen. Es gilt nun, diesen Worten Leben einzuhauchen, längst überfällige Konsequenzen zu ziehen, Verantwortung zu übernehmen. Verbal ist das Nordösling nämlich schon des öfteren gerettet worden. Indessen Fachleute über den Patienten Kanton Clerf diskutieren, Berichte erstellen und Pläne entwerten mögen, vor Ort konnte der Aderlaß mitnichten gestoppt werden. In der Zwischenzeit dürfte das
« Syndicat Intercommunal pour la promotion du canton de Clervaux »
seine Arbeit aufgenommen haben. Wir versprechen uns sehr viel von diesem neuen Gremium und wünschen, daß es als Quelle von Impulsen und Ideen eine Oase der Hoffnung in der Nordspitze darstellen wird. Man könnte dennoch wohl beraten sein, auch in Zukunft der Situation nüchtern ins Auge zu sehen. Angesichts des Ernstes der Lage scheinen Illusionen fehl am Platz. Bei Gelegenheit eines Rundtischgespräches über die Industrialisierung des Nordens, zu welchem uns die Fédération des Industriels Luxembourgeois freundlicherweise eingeladen hatte, konnten erwartungsgemäß keine Wundermittel zur Sanierung der Lage vorgestellt werden. Bedanken möchten wir uns einmal mehr für die Intervention unserer Norddeputierten und die engagierten Worte des Clerfer Bürgermeisters Michel Wehrhausen. Wenn auch verschiedene Kontakte bei dieser Gelegenheit vielversprechend schienen, eines dürfte sich allen offenbart haben: aus eigener Kraft wird es dem Kanton Clerf nicht gelingen, das Ruder herumzureißen. Die Tatsache, daß seit Jahren keine Arbeitsplätze in unserer Gegend entstanden sind, bestätigt zur Genüge die Ursache des Übels:
Mangel an Attraktivität!
Was könnte in der Tat jemanden zu einer Investition bewegen? Harte klimatische Bedingungen, die Entfernung zu den Autobahnen, Mangel an Arbeitskräften, Fehlen von geeigneten Industriezonen? Das Einsehen der Notsituation, gepaart mit Worten des Trostes, auch ernstgemeinten, wird auf Dauer kaum genügen, den Zusammenbruch des Achtels unseres Staates zu verhindern. Es scheint an der Zeit, mit aller Entschlossenheit ein
Hilfspaket
für die Nordspitze zu fordern. Die gegenüber den letzten Jahren verbesserten finanziellen Mittel der Regierung sollten umgehend dazu genutzt werden, den Beweis zu erbringen, daß nationale Solidarität sich nicht nur in Einbahnen bewegt, daß Zuschüsse und Anreize auch die Grenze des Nordöslings zu überwinden imstande sind. Kürzlich wurden verschiedene ausländische Bankspezialisten mit Aussicht auf Steuererleichterungen nach Luxemburg gelockt. Spezifische Maßnahmen, Anreize schaffen, Akzente setzen, es ist also immer wieder möglich! Die Frage bleibt ewig die gleiche, und wir werden nicht müde, sie aufs neue zu wiederholen: Besteht in unserem Land der politische Wille und die politische Kraft, den Kanton Clerf zu retten? Und noch etwas ist wohl wesentlich, ein einmaliges Hilfspaket, so notwendig es sein mag, dürfte bestenfalls einen gewissen Nachholbedarf decken. Auf Dauer gesehen kann nur eine kontinuierliche und voluntaristische Aktion der Zukunft des Nordöslings eine reelle und faire Chance geben. Und einmal mehr erweist sich unsere Idee eines Gesamtkonzeptes als wesentliche Voraussetzung zum Erfolg. Punktuelle Maßnahmen, Lösung von Detailfragen hätten nur innerhalb eines Gesamtplanes einen Sinn, allein betrachtet würden sie – wenn auch unfreiwillig – in die Rolle einer nicht ungefährlichen Alibiaktion schlüpfen.
Obwohl vorsichtiges Taktieren durchaus am Platze scheint, auch überstürztes Vorgehen könnte verheerende Folgen haben, die Zeit des Handelns müßte anbrechen. Der fragwürdige Balanceakt zwischen Abwartetaktik und Verpflichtung zu Hilfsmaßnahmen könnte ins Auge gehen; die Nummer an der Nordspitze geht ohne Netz über die Bühne. Die dunklen Schatten am Nordöslinger Horizont sind drohender geworden, immer noch ist der sehnsüchtig erwartete Silberstreifen bestenfalls eine Fata Morgana. Inwiefern die Weichen der Hilfe im Schienenwirrwarr des Regierungsbahnhofes gestellt sind, entzieht sich unserer Kenntnis, wann der Zug der Hoffnung endlich grünes Licht erhält, wissen wir nicht. Eines dürfte sicher sein, allzu lange sollte es nicht mehr dauern. Ansonsten hätte das Lehrstück seine Moral.