Léon Braconnier
Der lange Kampf ums Überleben
Daß wir bei unseren Bemühungen zur kulturellen und sozio-ökonomischen Wiederbelebung der Nordspitze unseres Landes die Erfolgserlebnisse nicht wie Rosenkranzperlen aneinanderreihen würden, war von Anfang an gewußt. Dennoch, sollte eine Art Zwischenbilanz gezogen werden, man tut sich schwer an Ort und Stelle Konkretes, Greifbares zu entdecken. Außerordentlich schwer scheint es sich auch der Luxemburger Staat zu tun, aus der in der Zwischenzeit auf Bandgröße angewachsenen Wortsaat etwas Vernünftiges wachsen zu lassen. Ja, fast peinlich wirkt ein Blick zurück:
- 7. Dezember 1981: die Nordabgeordneten Henri Cravatte, J.-P. Dichter, Charles Goerens, René Hübsch, Edouard Juncker, René Steichen und Camille Weiler, zusammen mit Vertretern des Cliärrwer Kanton und 4 Bürgermeistern, richten einen Brief an Premierminister Pierre Werner, um die Aufmerksamkeit der Regierung auf die dramatische Evolution des Hochöslings zu lenken.
- 12. Februar 1982: der Regierungschef sagt Hilfe zu und gibt einer interministeriellen Arbeitsgruppe den Auftrag, vor Jahresende einen Bericht über den Kanton Clerf zu erstellen.
- Dezember 1983: Mit einjähriger Verspätung wird die « Etude sur le Canton de Clervaux » vorgestellt. Alle unsere Befürchtungen werden (leider) bestätigt; der Bericht schlußfolgert: « Ce que l’on peut avancer, c’est que si rien n’est entrepris, la situation continuera à évoluer défavorablement. »
- 27. Februar 1984: Rundtischgespräch über die Zukunft des Clerfer Kantons, organisiert von der LSAP-Norden. Einmütig geben bei dieser Gelegenheit Vertreter der Parteien CSV, DP und LSAP eine gemeinsame Erklärung ab und beschließen « in aller Entschlossenheit der negativen Entwicklung entgegenzuwirken ».
- 16. März 1984: Die Regierungsmannschaft mit Staatsminister Pierre Werner, Vize-Premier Colette Flesch, den Ministern Emile Krieps, Jacques Santer, Josy Barthel, Boy Konen, Fernand Boden, Jean Spautz und Staatssekretär Jean-Claude Juncker bemüht sich zu einem Rundtischgespräch mit den Norddeputierten Henri Cravatte, J.-P. Dichter, Charles Goerens, René Hübsch, Edouard Juncker, Henri Nanquette, René Steichen und Camille Weiler, mit den Bürgermeistern und Schöffen des Kan-tons, sowie mit Vertretern unserer Vereinigung ins Clerfer Schloß. Eine historische Chance für unsere Gegend…
- April/Mai 1984: Vorwahlzeit. Die 3 großen Parteien LSAP, DP und CSV wiederholen dem Cliärrwer Kanton ihre Bereitschaft, für die Wiederbelebung des Nordöslings Sorge zu tragen und sichern prioritäre Hilfen zu.
- Wenig später: Die neue Regierungsmannschaft um Jacques Santer verspricht in der Regierungserklärung spezielle Unterstützung für den Kanton Clerf.
- 15. Februar 1985: Die Regierung setzt eine gemischte Kommission aus Vertretern der verschiedenen Ministerien und Delegierten des Cliärrwer Kanton ein, um konkrete Vorschläge zur Besserung der Lage zu erarbeiten.
- Ende November 1985: Die Resultate der Commission mixte liegen vor. Die Kommission erkennt die Spezifität der Region an und fordert:Le canton de Clervaux devrait être considéré comme une entité territoriale particulière en ce qui concerne l’instauration et la coordination des mesures nécessaires à une amélioration de la structure générale en matière de développement économique et social;Tous les secteurs dont le développement est à considérer comme fondamental en vue du but recherche devraient profiter d’une aide spécifique, dépassant éventuellement les possibilités actuelles par une modification de la législation existante ou en voie d’élaboration.Dans ce dernier contexte, une priorité revient à la création de nouveaux emplois, notamment dans le secteur industriel. »
- Mitte April 1986: Staatssekretär Johny Lahure kündigt das Schaffen von regionalen Industriezonen in den Kantonen Clerf und Grevenmacher an. Unseren Informationen zufolge ist dieses Projekt dabei, den Instanzenweg zu durchlaufen und wäre somit bis zum heutigen Tag das einzig konkrete Resultat vorort.
Ohne den Anspruch auf Vollzähligkeit mag diese Aufzählung doch wohl an den fast übergroßen Aufwand erinnern, mit welchem die Verantwortlichen die Problematik des Hochöslings eingekreist haben. Dadurch fällt natürlich der Gegensatz zwischem verbalem Einsatz und Taten vorort umso mehr auf. Nimmt man die rezente Evolution etwas genauer unter die Lupe, könnte man sogar ein ungutes Gefühl nicht mehr los werden. Zuviele Fragen bleiben ohne Antwort, und auch mit viel diplomatischem Geschick kann man an ihnen nicht ohne weiteres vorbeimanövrieren.
- Daß der Kanton Clerf spezifische und prioritäre Unterstützung dringend nötig hat, ist uns schon -zigfach eingestanden worden. Bei soviel Einmut und Einsicht wundert es, nach Jahren geduldigen Wartens, daß der entscheidende Schritt in Richtung Taten noch nicht erfolgt ist. Das zulange Auf-der-Stelletreten beginnt den Boden des Vertrauens auszuhöhlen. Es wundert umsomehr, wenn man jahraus, jahrein von der Schaffung neuer Arbeitsplätze im übrigen Lande erfährt, und es staunen die Nordöslinger über die Dynamik und Entschlossenheit, mit der anderswo Projekte geschmiedet, Infrastrukturen geschaffen werden, Gerüste für den Zukunftsbau. Dabei sollte der Hilfszug seine lange Fahrt nach der Nordspitze schon längst aufgenommen haben, mit halber Kraft vielleicht und mit der üblichen Verspätung, aber noch immer ist sein Ankommen den Wartenden nicht angekündigt worden. Ja, fast könnte man annehmen, dunklen Kräften gelänge es seit Jahren die Bremsen zu blockieren, die Weichen zu verstellen…
- Auch in jüngster Vergangenheit tauchen wieder kaum getarnte Versuche auf, im Namen von Regionalisation und Rationalisierung, den Kanton Clerf weiter zu schwächen, den nicht nur flächenmäßig, sondern auch bevölkerungsmäßig größten Kanton der Nordspitze zum bedeutungslosen Vorort zu degradieren. Diesem systematischen und wohl nicht unbewußt geförderten Abbau sollte endlich Einhalt geboten werden. Regionalisation hat für unsere Gegend immer nur Marginalisation, Rationalisation immer nur Abzug bedeutet. Wie lange noch?
- Die Konsequenz des Einsehens und Anerkennens der Notsituation im Nordösling wäre, wie ja auch von der Commission Mixte vorgeschlagen, die Durchführung eines spezifischen Hilfsprogrammes. Die Problematik an der Nordspitze unterscheidet sich von jener anderer Gegenden durch ihre Eigenart und ihre Gravität. Bei Therapievorschlägen ist deshalb nur schwer verständlich, wieso unser Kanton dennoch jedesmal mit anderen Regionen in denselben Topf geworfen wird. Bei dieser Art von Eintopf wer-den wir mit großer Wahrscheinlichkeit einmal mehr leer ausgehen. Dennoch, das Beispiel Cliärrwer Kanton scheint Schule gemacht zu haben…!
- Sogar Detailfragen werden auf die lange Bank geschoben, die Vernachlässigung beginnt beängstigende Ausmaße anzunehmen. Wenn man sich überlegt welch gewaltige Summen (glücklicherweise) für die Instandsetzung der Luxemburger Altstadt bereitgestellt werden, fragt man sich, zu Unrecht vielleicht, ob die Einrichtung eines Künstlerateliers im Clerfer Burgunderturm wirklich ein Ding der Unmöglichkeit gewesen sein soll. Ganz sicher hätten es die Öslinger als Akzent zu würdigen gewußt.
- In den Jahren 1976 -1985 wurden in unserem Lande 60 neue Industriebetriebe gegründet, mit an die 4.300 Arbeitsplätzen. Bekanntlich ist der Kanton Clerf dabei leer ausgegangen. Dieses Verhältnis viertausenddreihundert zu null wird auch in Zukunft nicht zu verbessern sein, wenn nicht endlich durch adäquate Infrastrukturen Investitionen überhaupt ermöglicht werden, wenn nicht durch Sondermaßnahmen Anreize geschaffen werden, welche die Startbedingungen für interessierte Industrielle etwas günstiger erscheinen lassen. Der Staat Luxemburg besitzt zur Zeit die finanziellen Möglichkeiten zur Realisierung eines Hilfspaketes; werden sie genutzt?
So gibt es der Fragen viele. Die meisten Antworten werden wir wohl selber finden müssen. Wie dem auch sei, sei es Interesselosigkeit oder zuviel (Eigen)lnteresse, man hat es bisher geschickt verstanden, einem präzis aufgebauten und zeitlich definierten Gesamtplan aus dem Weg zu gehen. Wann die Landesplanung den entscheidenden Schritt in Richtung ausgewogenes Gleichgewicht zwischen der Nord-Süd-Entwicklung wagt, entzieht sich unserem Wissen. Das Wirtschaftskarussel funktioniert verständlicherweise stur nach Rentabilitätsgesetzen, und auch das Staatskarussel scheint sich nur nach Wählerstimmen zu drehen. Beide laufen, im Trio mit dem Faktor Zeit, gegen uns.
So ist das Aussterben vieler « vergessener Dörfer » wohl vorprogrammiert, und das Gesundschrumpfen in Richtung Agrarfabriken und Tierbunker geht ungehemmt weiter. Nur wenn ein Bündel Maßnahmen, zu einem Gesamtplan geschnürt, schnell und unbürokratisch zur Ausführung gelangt, könnte die übermäßige Ausdünnung der Bevölkerung vielleicht noch verhindert werden. Zuviel kostbare Zeit ist schon verloren und mit Hinhaltestrategie und Abwartetaktik wird das Vertrauen der Nordöslinger auf bessere Zeiten nicht gestärkt.
Der lange Kampf ums Überleben geht weiter. Es gilt, alle Kräfte zu mobilisieren. Wird es dem « Syndicat Intercommunal pour la Promotion du Canton de Clervaux » gelingen, seine Schlüsselrolle in der Zukunftsplanung einzunehmen? Wie lange werden die Medien noch ihr Interesse am Nordösling behalten, wann werden vielleicht auch unsere Abgeordneten (siehe nachfolgende Seiten) den Mut verlieren? Wir meinen, auch die Einwohner einer weit von den Machtzentren entfernten Region haben ihr Anrecht auf Zukunft.