Léon Braconnier
Zweierlei Maß, zweierlei Ambition?
So oder so, die Zahlen und Fakten scheinen eine deutliche Sprache zu reden. Von Bilanz zu Bilanz kommen tausende von neu geschaffenen Arbeitsplätzen hinzu. Aufgepäppelt, investiert die nationale Stahlindustrie wieder und läßt via Hei-Elei-Wellen Aufmunterndes und Erbauliches in die Stuben senden. Die ausländische Fachpresse kam nicht umhin, dem Finanzplatz Luxemburg einen Aufwärtstrend zu bescheinigen, und wie damals beim Feierwon, ziehen wir mit Hurra ins Satellitenzeitalter ein. Jubel für die Fertigstellung der Autobahn Luxemburg-Brüssel, der Anschluß an das TGV-Netz wird energisch gefordert. Projekte en gros und blauer Himmel über Luxemburg.
Freilich, der Kanton Clerf, für den prioritäre Hilfe verlangt und versprochen wurde, ist bei den vielen Erfolgsmeldungen eigentlich recht selten Nutznießer gewesen. Hat von dem wunderbaren Manna nur wenig abbekommen.
Und immer mehr Stimmen warnen in der Tat vor einer ungesunden Verschiebung der sozio-ökonomischen Strukturen in Luxemburg. Kann der Rest des Landes durch moderne Autobahnverbindungen an die expandierende Hauptstadt, mit ihrer rapide anwachsenden Peripherie, zumindest noch den Anschluß halten, so beunruhigt mancher Beobachter sich über das stetige Abgleiten der Nordspitze in die Isolation.
Das UNGLEICHGEWICHT in unserem Lande ist in den letzten Jahren keineswegs kleiner geworden, es besteht immer noch eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen dem Berg von Resolutionen, Studien, Vorschlägen und Projekten auf der einen, und dem tatsächlich Realisierten auf der anderen Seite. Den ersten Platz in der Hitparade der Minusrekorde, welchen die « Etude » von 1983 dem Kanton Clerf bescheinigte, hat die Nordspitze bis auf weiteres immer noch inne. Für die Verantwortlichen in den Machtzentren scheint das Nordösling eine regelrechte Hemmschwelle darzustellen, und verschiedene Kräfte wachen peinlichst, daß die Projekte zugunsten der Nordecke auch Projekte bleiben.
Man kann und sollte nicht weiter versuchen, der strukturellen Schwäche des Clerfer Kantons mit punktuellen Schritten beizukommen, deren Symbolwert, bis in himmlische Sphären hochgejubelt, nur ein schwacher Ersatz ist für die PRINZIPIELLE ENTSCHEIDUNG, endlich aus der Wortsaat Taten wachsen zu lassen. Mag sein, daß diese Entscheidung eine energische und mutige Entschlossenheit voraussetzt. Auch in den nächsten Monaten ist wieder mit Ablenkungsmanövern, Schönfärberei und Verharmlosung der Situation zu rechnen, mit bewährten Sonntagsreden, Sympathiebekundungen und Durchhalteparolen. Doch das Publikum ist diffiziler geworden, und die Akteure sollten besser der Bevölkerung reinen Wein einschenken, als sich in agiler Gedankengymnastik und sprachlicher Subtilität zu üben. Offene Worte sind gefragt, Worte welche z.B. von den Schwierigkeiten berichten, vor der starken Zentrums- und Südlobby für die administrative, kulturelle, ökonomische und menschliche Wiederbelebung des Nordens einzutreten. Vielleicht sollte man uns erklären, wieso die Zahl der tauben Ohren Hochkonjunktur hat, wenn es darum geht, Begriffe wie Ambition und Dynamik auch mit dem Ösling in Einklang zu bringen. Offene Worte, und der Beifall der Zuhörenden wird mehr als nur Höflichkeit sein. Und die anstehenden Versammlungen und Rundtischgespräche könnten sogar zu einem wirklichen Ereignis werden, sollte es gelingen, die legitime Hoffnung der Bevölkerung in ihre Region zu stärken.
Letztendlich geht es darum, die Offensive gegen die negative Evolution ernsthaft einzuleiten. Mögen’ auch verschiedene Versuche, die Nordöslingsproblematik etwas weniger lasch anzupacken, durchaus begrüßenswert sein, als Ansatz für den notwendigen Gesamtplan sind sie aber kaum ausreichend. Auch Hinweise auf Tourismus und Landwirtschaft können ohne neue Trümpfe mit Sicherheit nicht in die Rolle des Retters hineinschlüpfen.
Doch manchmal kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß auch etliche lokale Kräfte brachliegen, mit Verwalten viel beschäftigter sind als mit präzisen und mutigen Projekten für den Kanton Clerf. Es sei denn, all die vielen Nachrichten der letzten Zeit würden sich bewahrheiten und bewähren. Die neue Berufsschule in Clerf wäre erwachsen, erste Golfbälle würden durch die klare Öslinger Luft fliegen, das Feriendorf würde seine Pforten öffnen, die elektrifizierte, moderne Eisenbahn wäre kundenfreundlicher und performanter. Neue, umweltfreundliche Industrien entstehen in den regionalen Industriezonen. Eine Schnellstraße verbindet das Ösling mit der Hauptstadt, der Staat zieht seine Verwaltungen nicht mehr ab, sondern dezentralisiert…
Zweierlei Maß, zweierlei Ambition in Luxemburg? Wann können unsere Kinder, nach Abschluß ihrer Ausbildung wieder ernsthaft ihr Leben im Norden planen?
CHANCENGLEICHHEIT in Luxemburg, das wäre wohl das schönste Geburtstagsgeschenk für unsere Vereinigung, welche 1989 ihr zehnjähriges Bestehen feiert. Zehn Jahre Cliärrwer Kanton, das ist die Geschichte einer einzigartigen Idee, und weit über 2500 großformatige Seiten unserer Zeitschrift legen Zeugnis ab über die zurückgelegte Strecke. Das Resultat hat den mutigen und weitsichtigen Pionieren von damals recht gegeben, mögen sie den erfolgreichen Weg des Cliärrwer Kanton als ihrer Ernte reiche Frucht ansehen. Allen Mitarbeitern, den vielen Autoren, Photographen, Illustratoren, sowie allen Vorstandsmitgliedern sei in diesem Moment gedankt. Vor allem aber sei es erlaubt, dem Schriftleiter und Autor Alex Jacoby für seinen unermüdlichen und unbezahlbaren Einsatz im Dienste unseres Bulletins ein aufrichtiges und bewegtes Merci auszusprechen.
Auch unseren Mitgliedern gehört Dank für ihre Treue und die großzügige materielle Unterstützung.
Im Namen des Vorstandes wünsche ich allen Lesern für 1989 das Allerbeste. Möge das neue Jahrzehnt des Cliärrwer Kanton von angemessener Zuversicht und Hoffnung gekennzeichnet sein!