Léon Braconnier

Bitte erzähl mir vom Krieg …

Die 94’er Edition des Winters hat Einzug gehalten, Weihnachten steht vor der Tür. Sylvester werden die meisten von uns feiern und fast alle zum Neuen Glückwünsche austauschen. Wie jedes Jahr. Und fast sind die neuen Jahre wie die alten.

Der kalte Atem des Ostwindes wird über die rauhe Öslinger Landschaft streichen, vielleicht Eis und Schnee bringen, wie ein Zeichen von damals. Oder der hinterlistige Westwind wird einmal mehr kalten Winterregen durch unsere Täler jagen und über unsere Höhen fegen, und die Menschen werden sagen, daß es die Winter von früher nicht mehr gibt. Die Winter von früher, als das Holz im Ofen prasselte und die Hitze ungleich verteilte, die Winter, in denen die Kinder oft mit kalten Füßen in durchnäßten Schuhen Lesen und Schreiben und Rechnen lernten.

Vor nun 50 Jahren begann am 16. Dezember ein besonders harter Winter, der nicht nur Nebel und Eis und Schnee brachte, sondern auch Tod und Verderben. In diesem Winter 44/45 begleitete der Ostwind das unheimliche Rasseln der Panzerketten und das nicht endende Dröhnen der Geschütze. Es war ein schauriger Ostwind. Viele tausend junge Männer starben im Ardennerschnee den einsamen Heldentod. Ohne wehende Fahnen und strahlende Fanfaren. Sie starben in einem fremden Land, das zum großen Teil in Schutt und Asche lag. Aus dem Wiedersehen, mit dem sie sich zuhause verabschiedet hatten, wurde ein Adieu.

Sehr großes Leid brach damals über unser Land und besonders über das Ösling. Dieser Winter barg viele Tränen in seinen frostigen Augen. Es waren eisige Tränen, die tiefe Wunden schnitten und manchmal heilten diese Wunden nicht.

Bitte erzähl mir vom Krieg.

Wir Nachkriegskinder kannten noch die zerschossenen Giebel in den Dörfern. Wußten noch wie die schrecklichen Erlebnisse manchmal unseren Eltern und Großeltern in den Gesichtern geschrieben standen. In ihren Berichten wurde der Krieg lebendig, mit all seinen Greueln. Und manchmal wurde er noch lebendiger in dem Schweigen, das die Antwort auf manche unserer Fragen war.

Wir Nachkriegskinder wußten um die verheerende Wirkung der Minen, die noch in den Wäldern herumlagen. Wußten von Kindern, die auf furchtbare Weise das Spielen mit Kriegsmaterial bezahlen mußten. Damals wurden in jeder Familie Geschichten vom Krieg erzählt, Geschichten von stupider Gewalt, von grausamen Zufällen, Geschichten von Heldentaten und von Feigheit. Und in all den Geschichten gab es weit mehr Verlierer als Gewinner. Unsere Freiheit ist damals bitter erkämpft und teuer bezahlt worden.

Und wenn heute weltweit so viel Blut vergossen wird, wenn zahllose Kriege, Kämpfe und Fehden auch über Weihnachten 1994 keine Pause einlegen, wenn heute Millionen von Menschen unterjocht, geknechtet sind oder auf der Flucht, wenn die Frauen vielerorts immer noch Menschen zweiter Klasse sind, wäre das vielleicht ein Grund, sich Fragen zu stellen. Bedauern und Trauer zu empfinden, daß es immer wieder fanatischen Kräften gelingt, im Namen von Nationalismus, Ideologie, Rassismus oder Religion die Massen zu bewegen, Manipulation in Hochpotenz, Korruption, steigende organisierte Kriminalität, Erpressung: wie krank ist unsere Welt? Wenn dem überhaupt beizukommen ist, dann sollte und müßte die Kultur ein Haupthoffnungsträger sein. Die Kultur als Trägerin humanistischen Gedankengutes, die Kultur als Vermittlerin von Toleranz und Verständnis, die Kultur als Ansporn zu selbständigem und kritischem Denken.

Wo aber bleibt das kritische Denken? Manche Erwachsene und Kinder lesen nicht einmal ein Buch pro Jahr. Lassen sich aber auf der anderen Seite von einer Unmenge Dummheit befruchten und beglücken. Spezialisierte Konzerne kippen tagtäglich jede Menge Medienmüll in die Landschaft. Seichteste Billig-TV-Serien, die an Primitivität in jeder Hinsicht kaum noch zu überbieten sind, finden immer und immer Anklang. Intellektueller Wust, sogenannte « Reality- und Talkshows » mit erfundenen Stories, dirigiertem Publikum und präparierten Teilnehmern wetteifern um begehrte Einschaltquoten. Kinder starren gebannt auf den Bildschirm, wenn die Rambo-Männer ihre hormongetrimmten, hochglanzpolierten Muskeln spielen lassen und feste dreinschlagen. Gewalt als Mittel zum Zweck, unterste Instinkte und Rachegelüste werden geweckt, das alles gepaart mit Waschpulver- und Hundefutterwerbung. Tonnen Papier werden vergewaltigt; das sensations- und blutgierige Publikum verlangt tagtäglich Skandal und Mord.

Kritisches Denken scheint immer mehr unerwünscht. Subtilität und geistige Feinheit wirken schon fast wie Fremdkörper. Imagination wird morgen schon vielleicht steckbrieflich gesucht. Und Ausscheren aus der bald genormten und obligatorischen Uniformität strafrechtlich verfolgt.

Wer hat noch den Mut zum nein sagen?

Da tut es gut, daß es noch Menschen gibt, denen es schmerzt, daß so manches teure « Centre Culturel » als Grillzentrum in Luxusausführung ein trauriges Dasein fristet. Und das wiederum ist fast so wie ein Fünkchen Hoffnung, das uns allen zum neuen Jahr etwas Licht bringt.