Léon Braconnier

Lose Gedanken

Der Freund hatte gesagt: bitte Léon, es würde mich freuen, wenn Dein nächster Leitartikel ohne die Nordstraße auskäme. Diesem Freund seien diese Zeilen gewidmet.

In den letzten Sommertagen geht ein Raunen durch die Blätter: bald haben wir ein Rendez-vous mit dem Herbst. Die Blätter sind aufgeregt. Und schon erfaßt sie Regen und Wind. Und dann treten die Blätter in bunten Kleidern ihre erste und letzte Reise an. Und der Wind, der das Flugticket bringt muß kein heftiger Sturm sein, manchmal genügt ein Flüstern der Luft. Und wenn man diesem Flüstern sein ganzes Ohr schenkt kann man an manchen Tagen die Gedanken der Menschen verstehe, die der fleißige Herbstwind gesammelt hat. Der Wind sammelt die Gedanken der Menschen nicht aufs Geratewohl. Er sammelt die Gedanken der Menschen im Norden, im Westen, im Osten und im Süden, da wo der Allmächtige ihn befohlen hat. Und mit jedem Herbstblatt, das er verabschiedet, schickt der Wind einen gesammelten Gedanken mit auf die Reise. So sind es Tausende und Abertausende Gedanken aus allen Winkeln der Erde, die ihren letzten Flug antreten. Sie landen auf Wiesen und in Wäldern, in Gärten und Parks, auf Bürgersteigen und Straßen, Dächern und Balkonen. Fallen in reißende Ströme oder trudeln in Hinterhöfe.

Da kam das Mädchen Marie und sammelte all die farbigen Blätter ein, die im Hinterhof ihres Großvaters lagen. Fein säuberlich packte das Kind sie in einen Schuhkarton und versteckte ihn im Schuppen. Aber dann kam der Schnee und Sankt Nikolaus und das Christkind und erst als sich die Blumen und der Osterhase angemeldet hatten, dachte Marie wieder an den Schuhkarton mit den Herbstblättern. Flugs eilte sie zum Schuppen und öffnete den Deckel. Die Blätter waren noch alle da, aber die Vielfalt der Farben war einem uniformen dunkelbraun gewichen. Und auf den dunkelbraunen Blättern konnte das Kind kleine Schriftzeichen erkennen: die Gedanken waren sichtbar geworden.

Und Marie verwahrte den Schuhkarton sehr sorgfältig, als ob es sich um wertvolle Manuskripte auf Pergamentrollen handelte.

Das Kind wußte nicht wie wertlos menschliche Gedanken sind. Auch wenn sie einen manchmal an langen Herbstabenden, etwas nachdenklich stimmen.

Wo auch immer Menschen am Werke sind, und was sie auch immer werkeln, immer menschelt es sehr. So gesehen beruht vermutlich jeder Glauben an ein Ideal, das menschliches Zutun erfordert, auf einer soliden Naivität.

Wer wundert sich noch über die gewaltigen Kräfte, welche das Streben nach Macht und Einfluß immer wieder freisetzt? Und sei die angestrebte Macht noch so winzig klein, ja fast lächerlich und bedeutungslos.

Werte verlieren an Bedeutung, das Interesse wird zum Alpha und Omega.

Oberflächiges frißt den Inhalt, Oberflächliches erstickt das Tiefgründige, der Schein ermordet das Sein.

Viel Wertloses wird in Bewegung gesetzt, formiert sich gar zum langweiligen Umzug.

Trotz multimedialer Information: der Club der Leichtgläubigen boomt in der Welt der Aufgeklärten. Der Eintritt ist kostenlos.

Tam’tam um nichts. Und ist der Ton nicht fein und rein, wird eben lauter aufgedreht.

In der kulturellen Szene geht es viel zu oft nicht mehr um das Was und Wie, sondern um das Wo und Wer.

Manch mittelmäßiges Getue, publikumswirksam zum kulturellen Großereignis hochgepäppelt, hätte mit etwas Nachsicht in der Kategorie Spektakel leicht einen kleinen Platz verdient.

Fernsehen kann auch verblödend sein. Die hilflosen Opfer der nachmittäglichen, unerträglichen TV-Shows: die Kinder. Bei soviel Reality, ob schlüpfrig oder blutrünstig, hätte so mancher pseudo-intellektuelle Macher längst die Rote Karte mit Fußtritt verdient. Aber es gibt leider nur einen Schiedsrichter: die Zuschauer.

Auch die Kulturzentren hierzulande, millionenteuer, bieten Erkleckliches und Erbauendes. Erbauend vor allem, weil für Essen und Trinken immer gesorgt ist.

Höhere Ansprüche eben für den Saubal.

Kulturzentren ohne Loge und Toilette für den Künstler vielleicht, aber immer mit reichlich Theke und Zapfanlagen.

Nach sehr offiziellen Angaben ist in Luxemburg weit über die Hälfte der Bäume mehr oder weniger schwer krank. Die Wälder, die ich sehe, sind wahrscheinlich Fata Morganas.

Das statistische Amt bestätigt: im ländlichen Luxemburg siecht der Tourismus dahin. Aber treibt dort Blüten, wo die Infrastrukturen sind.

Ösling: das Wickelkind Luxemburgs. Es wird auf den Arm genommen.

Pseudoprojekte, hohle Werte, leeres Getue, falsche Versprechen, Unsinniges und Irrsinniges, trojanische Pferde für den Norden.

Unnützes und Überflüssiges: Prothesen für das absolut Notwendige.

Lügen haben kurze Beine, die meisten Lügner aber werden dennoch nicht eingefangen, laufen frei herum und setzen sogar immer noch eins drauf.

Manch rühriger Zeitgenosse biedert sich immer wieder an, um das Röllchen spielen zu dürfen, das man dem Ösling freundlicherweise zugesteht.

Um in der ersten Reihe zu stehen, zögern einige Photoliebhaber nicht, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Was an sich nicht schlimm wäre. Bedrohlich wird es nur, wenn eine ganze Gegend mit aufs Bild soll.