Léon Braconnier

Welchen Nutzen hat die Nordstraße

Anfang Juni 1999. Vorwahlzeit. Eine hiesige Tageszeitung lässt Politiker aller Couleur auf Leserfragen antworten. Zu Beginn der Serie liefert das Blatt einige Beispielfragen, um das Ganze anschaulich und schmackhaft zu machen.

Dabei sticht dem Unterzeichneten eine Frage sofort ins Auge.

Welchen Nutzen hat die Nordstrasse ausser dem, dass man am Wochenende schneller ins Ösling kann?

Nun mag man diese Frage als gewollte Provokation abtun, sie scheint aber einige Zeilen wert zu sein.

Denn, wie immer: der Apfel fällt so weit vom Stamm nicht. Da einem Einwohner des Öslings kaum eine solch kuriose Frage zu entlocken wäre, ist anzunehmen, dass der Fragesteller aus dem Zentrum, bez. aus dem Süden des Landes stammt. Er sieht in jedem Fall den Norden durch eine südgetönte Brille. Die Nordstrasse, so sie überhaupt einen Nutzen, oder gar einen tieferen Sinn hat, kann ja in der Tat nur dazu dienen, am Wochenende ins Ösling zu fahren. Und das ist wahrscheinlich eher selten der Fall. Interessiert den Zentrumsbewohner oder Minettsdapp wirklich nicht, dass im Ösling einige Menschen wohnen könnten, die tagtäglich mit dem Auto zur Arbeit fahren müssen? Oder in die Hauptstadt? In eines der zahlreichen nationalen Zentren gar, die im Ösling so selten sind wie das schöne Edelweiss?

Die Nordstrasse. Ausflugsstrasse ins Reservat? Die luxemburger Route du soleil? La Route verte?

Freuen wir uns also auf das moderne Demokratieverständnis. Es ist gross im kommen.

Welchen Nutzen hat die Rockhalle in Esch ausser dem, dass man dort unnützen Lärm produziert?

Welchen Nutzen hat B TB ausser dem, dass man zur Oktave schneller vom Bahnhof zur Kathedrale kann? Welchen Nutzen haben die Autobahnen im Süden ausser, dass ich schneller nach Frankreich kann? Welchen Nutzen hat das neue Tenniszentrum, ich spiele ja kein Tennis? Das ist moderner Zivismus. Da hüpft das Herz in der Brust jedes echten Demokraten.

Wie gesagt, man mag nun anführen, die Frage habe einen didaktischen Background.

In diesem Sinne waren die Antworten der meisten Politiker auf die Frage übrigens recht erfreulich . Stellvertretend sei hier die Antwort eines Georges Wohlfart abgedruckt:

Welchen Nutzen hat die Nordstrasse ausser dem, dass man am Wochenende schneller ins Ösling kann?

Sicher ist das Ösling ein schönes Stück Luxemburg, eine bemerkenswerte Landschaft, Dies ist jedoch kein Grund, diese Region unseres Landes lediglich als Museum oder Naturreservat, die man zukünftig schneller über die Nordstrasse erreichen kann, zu betrachten, Das Ösling ist auch Heimat für Menschen, die Anrecht haben auf ein gesundes Gleichgewicht in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Dienstleistungen und Freizeit, Qualität der Infrastrukturen und vor allem die Zugänglichkeit sind die Voraussetzungen für die Entwicklung einer Region, Der Bau der Nordstrasse w1rd es erlauben, den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aufschwung, welcher in den letzten Jahren verschiedene Ortschaften des Öslings mit neuem Leben erfüllt hat, zu konsolidieren und auszubauen, Somit stellt die Nordstrasse für die Bewohner des Öslings viel mehr als eine Verkehrsader dar, die von Norden nach Süden und umgekehrt führt ; sie bedeutet Anerkennung, Gleichberechtigung und Verbesserung ihrer Lebensqualität.

Eine gute Antwort, fürwahr. Georges Wohlfart hat mit treffenden Worten die ganze Tragweite des Projektes Nordstrasse umrissen.

Die Frage jedoch hinterlässt am Ende ein ungutes Gefühl. Gibt es in Luxemburg wirklich Menschen, für die die Nordstrasse NUR einen Sinn ergibt, wenn man am Wochenende schneller ins Ösling fahren kann? Wenn ja, dann hätte sie einen verdammt bitteren Nachgeschmack.

Zum Glück baut man zur Zeit mit Elan an der Nordstrasse. Ja, zum Glück baut man an einem neuen Luxemburg. An einem neuen Land, für alle Einwohner.