Léon Braconnier

Äddi Raymond

Vor etwas mehr als einem Jahr ist der Clerfer Arzt Raymond Thillen zu seiner letzten großen Reise aufgebrochen. Fast unbemerkt. Aber die Nachricht seines Todes hat betroffen gemacht. Dr Thillen ist tot.

Wieder einmal waren die Städtchen und die Dörfer, waren die Menschen des Kantons ärmer geworden.

Ein Mann hat sich verabschiedet, dessen Wirken weit über das Medizinische hinausging.

Persönlich habe ich Dr Thillen erst 1981 kennen gelernt. Da war er fast schon 30 Jahre in Clerf tätig. Die Tür der Apotheke flog auf und dann stand er da, ein drahtiger Mann, energisch, vital. Er war in Eile, fragte nach einigen Medikamenten für seinen Koffer, zündete eine Zigarette an, und verschwand. Die erste Begegnung hatte nur wenige Minuten gedauert. Später erfuhr ich, dass er die Gewohnheit hatte, auch die Wartezimmertür aufzureißen, wortlos. Das war das Signal für den „Nächsten“.

Diesen ersten Minuten sollten viele weitere folgen. Und die weiteren Minuten waren meistens Stunden. Stundenlange Gespräche, in der Apotheke, am Telefon. Oft rief er an, manchmal spät am Abend. Das Spektrum unserer Themen war weit gespannt, von den vielen kleinen und großen Dingen, die das Leben so farbig malen, über Politik und Kultur bis zur Zukunft der Region.

Fast 5 Jahrzehnte hat der Arzt Raymond Thillen die Menschen des Kantons, begleitet, betreut. Wie viele Geburten hat er miterlebt, wie vielen Todkranken und Sterbenden Trost gespendet? Wie oft war er Notarzt, wie oft Lebensretter? In all den Jahren hat er Hunderte von Häusern betreten, kannte einen großen Teil der Einwohner unserer Region. Manchmal, in entscheidenden Momenten hatte der viel gefragte Arzt plötzlich viel Zeit. Er hörte in aller Ruhe seinem Gegenüber zu. Daraus wurde dann manchmal eines jener Gespräche, die man ein Leben lang nicht vergisst.

Wer Kontakt mit vielen Männern, Frauen und Kindern hat, weiß um viel Leid, und weiß um genau soviel Hoffnung. Einzel- oder Familienschicksale, Verzweiflung, menschliche Dramen, aber auch Anekdotenhaftes, Geschichten, die der Alltag schreibt.

Wer Dr Thillen kannte, wusste sehr wohl, dass sich unter dem mitunter etwas burschikosen Auftritt ein äußerst sensibler, hochintelligenter Mensch verbarg. Ein erstklassiger, erfahrener Mediziner, ständig bemüht, auf dem neuesten Stand des Wissens zu sein. Aber darüber hinaus, ein guter Mensch. Und dieser gute, fleißige Mensch stand während Jahrzehnten Tag und Nacht im Dienst einer Region, die ihm ans Herz gewachsen war. Aus vielen Gesprächen weiß ich um seinen Respekt den einfachen Menschen gegenüber, die oft hart arbeiten mußten, um ihre Existenz zu sichern, um ihre Familie zu ernähren.

Man ahnt, des Arztes eigene Familie hat sehr oft zurückstehen müssen.

Wohl niemand hat sie gezählt, die vielen tausend Mal, da Ray Thillen unterwegs war, bei helllichtem Tag wie bei dunkler Nacht, bei all dem Regen, Nebel, Eis und Schnee des Öslings. Im täglichen Einsatz gegen Krankheit und Leid, bisweilen im Wettlauf mit Gevatter Tod. In den 50er Jahren, sagte er mir, gab es in den meisten Straßen keine Beleuchtung. Man mußte mit der Taschenlampe seinen Weg in der Finsternis suchen. Bei winterlichen Verhältnissen kam es vor, dass die Leute anriefen, baten, bitte kommen sie zu uns, der Weg ist heute zu gefährlich.

Raymond Thillen interessierte sich leidenschaftlich für „seinen“ Kanton. Wie oft hat er Sorgen und Hoffnungen ausgetauscht mit seinen Gesprächspartnern Tony Bourg, Michel Wehrhausen, René Maertz, Michel Glod, und manchen anderen mehr. Aber mit den Jahren haben diese Gesprächspartner sich nach und nach verabschiedet. Oft bringt das Alter eine gewisse Vereinsamung, immer dann, wenn ein Freund Adieu sagen muß.

Und als vor einigen Jahren Dr Thillen seine Praxis aufgab, waren nicht wenige Patienten etwas desorientiert. Daß „Ihr“ Dr Thillen „aufhörte“ schien unvorstellbar: keine Sprechstunden mehr, keine weiteren Hausbesuche. Die wenigsten ahnten, daß das Schicksal dem Arzt keine Ruhejahre gewähren sollte. Ihm, der in all den Jahren so viel Leid mitgetragen hat, konnten wir alle nicht helfen.

Mögen diese Zeilen eine bescheidene Hommage sein an Dr Thillen, und, stellvertretend, an seine Kollegen, an all die Koener, Defay, Thines, Reisen… und sicher auch an die heutige Ärzteschaft, die, vielleicht besonders im Ösling, eine wichtige menschliche und soziale Rolle erfüllt.

In aller Stille hat Dr Raymond Thillen sich verabschiedet. Aber, und da bin ich mir sicher, ein ganzer Kanton hat sich in Ehrfurcht vor ihm verneigt.

Ich weiß auch heute nicht, wieso fast 20 Jahre vergingen, bevor ich Ray Thillen das freundschaftliche „Du“ anbot. Er war sofort einverstanden, und bat mich, auch ihn zu duzen. Aber ich wollte und konnte damals nicht, zu groß war und ist auch jetzt mein Respekt. Aber heute nehme ich dankend das „Du“ an.

Äddi Raymond.