Léon Braconnier

Weeër

Seit Menschengedenken gibt es Wege. Und es gibt sie auf allen Kontinenten. Feldwege zum Beispiel. Oder Radwege. Spazierwege. Karrenwege, Schmuggelpfade. Römerwege, Kreuzwege, Leidenswege, Wanderwege, Pilgerstrassen…

Aber die Seiten dieser Spezialnummer des Cliärrwer Kanton berichten nicht von den Wüstenpfaden der stolzen Tuaregs, nicht von den geheimen Gängen der Azteken. Sie erzählen vorwiegend von Öslinger Wegen. Manche davon sind uns allen bekannt, andere kann man dagegen auf keiner Karte finden. Diese Seiten leugnen Zeugnis ab von Wegen durch Raum und Zeit, laden ein zum Verweilen oder Wandern auf den manchmal geraden und den vielerorts krummen Pfaden, die die Einwohner der Ardennen im Laufe der Jahrhunderte verbinden. Ja, krumm, hügelig, abschüssig, schmal, kurz, lang, steinig, holprig, bescheiden mögen unsere Wege sein, aber wer erinnert sich nicht an das gemütliche Wandern durch schattige Wälder und sonnige Felder? An diesen Pfad, der sich in unserem Gedächtnis verewigt hat?

Wer die perfekte Schönheit des purpurroten Fingerhutes kennt, oder die Köstlichkeit einer Blaubeere, wer mit staunendem Auge hinter mancher Kurve Neues entdeckt, der weiß um die Wunder der Welt. Wege im Kommen und Gehen der Jahreszeiten als immer neue Pfade des Entdeckens.

Aber wer fragt nach all den Menschen, die die Wege bauten, begingen, befuhren? Wer hört nicht das Bellen des Hundes hinter der Kuhherde, das Knattern des alten Motorrades? Wer weiß um das Flüstern des Liebespaares, ein so leises Flüstern, dass sogar der Marienkäfer am Wegrand kaum etwas mitbekam? Und wer erinnert außer dem Schieferkreuz noch an den plötzlichen Tod des alten Lehrers, dort wo sich der Weg steil nach oben windet?

Die Wege der Menschen, so sie eine gewisse Wichtigkeit aufweisen, werden von geübten Leuten in Karten eingezeichnet, mal sind es nur die großen Verbindungen von Stadt zu Stadt, mal nationale, regionale oder kommunale Verbindungen, dann aber auch die kleinsten Pfade, ja die geringsten Wege, Umwege oder gar Sackgassen: sie alle werden akribisch genau aufs Papier gebannt. Nur die Wege der Tiere spart man peinlichst aus: allein die Wechsel der Menschen hält man fest.

Zu Beginn wuchsen die Wechsel unserer Vorfahren kaum über Pfade hinaus. Aber vielleicht brachten Trockenzeiten sie auf die Idee, Flussbetten als bequemere Verbindungen zu nutzen. Ja vielleicht waren in der Tat ausgetrocknete Flüsse die Vorgänger unserer Autobahnen. Obwohl nach der Erfindung des Rades viele Tage und Nächte vergingen, bevor kluge und bequeme Ahnen das motorisierte Rad erfanden. Da mussten breite und gerade Wege her, und da passte auf einmal auch die Bezeichnung Weg, Gasse oder Strasse nicht mehr. So wurden Schnellstrassen und Autobahnen getauft, Highways und Skyways. Wege aus Eisen entstanden, auch sie werden heute begradigt, um die schnellsten aller Züge sicher zu führen. Und jeden Tag, na ja, zumindest an jenen, wo die Wettergötter uns gnädig sind, kann man, auch im Öslinger Himmel, Hunderte von glänzenden Metallvögeln zählen, die schnurgerade Wege ziehen. Diese schnurgeraden Himmelswege haben unsere Welt ganz schön zusammenwachsen lassen, es sind die schnellsten von allen.

Manche Artikel dieser Sonderausgabe des Cliärrwer Kanton erzählen aber von ganz anderen Wegen. Von Wegen zwischen Erinnerung und Zukunft, zwischen Geburt und Tod, zwischen Hoffnung und Enttäuschung.

Von Wegen von Mensch zu Mensch. Von Wegen, die nach morgen führen.

Diese Wege sind es, die wir zum großen Teil noch bauen müssen. Und dennoch, es sind vielleicht von allen die Wichtigsten.