Léon Braconnier
Wenn es Tag wird im Oesling…
Früh morgens, wenn die ersten Strahlen der Sonne in ganz flachem Winkel die Hügel streicheln, erwacht im Ösling ein neuer Tag.
Die Nacht war ruhig, der Verkehr auf ein Minimum geschrumpft. Einige Fahrer auf dem Weg zur Schicht, eine Polizeipatrouille, der Notarzt vielleicht. Aber nun kommt Bewegung auf. Erste Lieferanten, Postfahrzeuge, die unausbleiblichen Fernlaster. Doch da läutet die Morgenglocke. Das Morgenglockengeläute ist fast immer ein Spiegelbild des Kirchturmes. Ist letzterer fein und klein, tönt auch das Glöckchen hell und fröhlich. Ist er jedoch mächtig und ragt hoch in die Himmel, klingt es kräftiger, erwachsener. Städtischer. Im Ösling, mit seinen vielen Dorfkirchen und Kapellen, überwiegen die freundlichen Klänge.
Mit fortschreitendem Tag steigt derweil die Zahl der rollenden Räder. Busse fahren von Dorf zu Dorf, sammeln kleine und größere Menschen und bringen sie zum Bahnhof, zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen. Besonders in den Wintermonaten kommen die Busse sehr früh. Dann erscheinen sie, wenn es noch dunkel ist. Beim Einsteigen wischen sich in jenen Tagen die kleinen und größeren Menschen die Nacht aus den Augen und Äuglein, und manchmal, da gähnen sie noch ein allerletztes Mal, bevor sie endlich den Tag einatmen. Die meisten Fahrgäste erwartet ein Klassenzimmer… ob das letztendlich eine erfreuliche Perspektive ist, kann man in den Gesichtern zu dieser Stunde nicht lesen.
Auch der erste Zug hat schon das Tal der Clerve durchquert. Hat den grauen Reiher beim Vorbeifahren kaum gestört. Der hat die Eisenbahn mit einem nur kurzen Blick gewürdigt und sich wieder ganz auf die Jagd nach Mäusen konzentriert. Die Reiher sind eine feste Größe in unserer Natur geworden. Grazil und elegant, stolz und klug. Auch der kluge Fuchs ist schon unterwegs, man kann seine charakteristische Spur ganz deutlich erkennen, dort neben der Pfütze im verschlammten Weg. Und jetzt im Frühjahr erscheint am Himmel eine geheimnisvolle Eins: der Zug der Kraniche. Diese bewegte Eins verbindet Kontinente miteinander, diese Eins verbindet Polareis mit Wüstensand.
Da kommt das Fahrzeug der Straßenbauverwaltung. Eine kühle Feuchtigkeit erwartet die Männer, die fast ausschließlich draußen arbeiten. Dafür sorgen, dass die Straßen in Ordnung sind, die Äste der Straßenbäume nicht in die Fahrbahn ragen, dass trotz Eis und Schnee im Winter die Fahrt nicht öfter zum Verhängnis wird. Doch nur selten sind die Wettergötter in unseren Gefilden der Truppe geneigt. Regen und trübe Himmel gehören fast immer zur Tagesordnung.
Geschäfte, Verwaltungen, Bankfilialen, Schulen öffnen ihre Türen, Telefonleitungen erwachen, Terminals, die Konnektionen Internet, jenem nie mehr endenden Strom von oder weniger nützlichen Informationen. Längst aber hat der Tag der Clerfer Benediktinermönche schon begonnen. Die ersten Gebete und Gesänge sind hoch zum dreieinigen Gott und der heilige Benedikt wird zufrieden sein. Seine Regel hat schon weit mehr als ein Jahrtausend überlebt.
Im 24-Stunden Rhythmus erwacht der Tag immer irgendwo auf dem Planet Erde. Vom jungen Morgenland bis zum alten Abendland: irgendwo wird es immer Licht. Und das seit vielen hundert Jahrmillionen. Überall Menschen und blicken der Sonne entgegen. Da; wird uns klar, der Tagesanbruch im Ösling ist an sich nichts außergewöhnliches.
Aber in einer Zeit, da die Weisheit der Menschen ganz klar ihre doch bescheidenen Grenzen zeigt, ist der Tagesanbruch im Ösling schon fast wie ein Geschenk.