Léon Braconnier
Nostalgie?
Hauptsächlich vor Weihnachten, aber auch vor allen anderen Festtagen herrscht, wohin man blickt, größte Aufregung. Panik macht sich breit. Von der Werbung aufgeheizt, von Musik eingelullt, strömen die Massen in die Cities, hetzen in die Einkaufszentren, kaufen sich tapfer durch bis zum verlängerten Ladenschluss.
Viele Zeitgenossen verwandeln sich in jenen Tagen in völlig irrationale Wesen. Im Lichterglanz von Millionen Glühbirnen und Leuchtdioden fällt es schwer, dem Wahnsinn zu widerstehen. Und dann sehnt man sie heimlich zurück, die Zeit in der ein sanftes Kerzenflackern die Herzen der Kinder erfreute.
Vor einigen Wochen, in einem der Konsumtempel, die wie moderne Grenzsteine das Luxemburger Territorium markieren, wanderten meine Gedanken zurück in die Zeit, in der man seine Einkäufe in einer « Epicerie » tätigte. Und schon hatte ich die Tür zum Laden aufgestoßen, den meine Großeltern damals in Beho führten. Ich vernahm die Klingel. Es gab an diesem Ort beileibe nicht nur Lebensmittel, sondern das Geschäft war gleichzeitig Mercerie, Tabakladen, Parfümerie, Bricocenter, Papeterie, Farbengeschäft, Drogerie, Telefonzelle und Café. Fast alles konnte man erstehen, vom frischem Ei bis zur Gasflasche (« Bonbonne ») . Für uns Kinder aus den 50er Jahren war dies natürlich ein Paradies. Klar, dass wir uns ab und zu eine Süßigkeit gönnten, aber war das nicht gerechter Lohn für unsere Mitarbeit? Nur zu gerne halfen wir beim Auspacken und Einräumen der Bestellungen, die mehrmals pro Woche eintrafen. Die Lieferwagen die Firmen Courthéoux und Bastin sicherten immer wieder den Warenbestand der Epicerie. Durch den Hausgang wurden die Kisten in die Küche getragen, alles auf dem Tisch ausgepackt, kontrolliert und in die Regale eingeräumt. Tirlemont Zucker, Maggy Suppen, Soubry Teigwaren, Persil Waschpulver, Liebig Würze, Rizzla Zigarettenpapier, Ajja 17 Tabak, Tréfin Bonbons und Jacques oder Côte d’Or Schokolade. Vom Stallbesen über die parfümierte Glückwunschkarte bis hin zum Lampenpetroleum gab es neben dem Lebensmittelsortiment nahezu alles, was das Herz begehrte. Im Parfümerieschrank fehlte weder das Schminkpuder, noch die damals in Belgien sehr geschätzte Brillantine, mit dem die Männer ihr Haar glänzend in Form brachten. Und wenn sich der Kopfschmuck lichtete, griff Mann zu Pétrole Hahn.
Fragten die Kunden nach Gruyère, wurde der Käse per Handkurbel in einer kleinen Mühle gerieben. Macaroni und Vermicelle gab es im Losen, derweil Pilchards, Sardinen in Öl und Bouletten in Tomatensoße schon immer im Blechkleid angeboten wurden. Damals von Kindern heiß begehrt, die Raviolis in der schwarzen Dose.
An den freien Flächen im Verkaufsraum und an der Außenfassade zogen die heute sehr gesuchten, nahezu unverwüstlichen Emaille-Schilder die Aufmerksamkeit auf sich. Boule d’Or, Sunlight, Banania und Belga brachten Farbe in das oft graue Leben.
Es existierte im Dorf keinerlei Straßenbeleuchtung. Bei Dunkelheit war es üblich, sich mit Taschenlampen den Weg zu suchen. Wie oft wohl hat mein Großvater für ältere Damen und Herren die Batterien gewechselt? Telefone waren rar, manche Menschen baten darum, in der Epicerie ein Gespräch zu führen. Man nahm den Hörer ab, drehte an einer Kurbel und hatte dann die Zentrale in Gouvy in der Leitung. « Allô Gouvy? Passez moi le 43 à Vielsalm. » – « Allô, c’est toi René ? …Matante n’est pas bien, tu sais. Le docteur craint le pire… Oui, ce serait bien, si vous pouviez passer…Oui, hein. A tantôt. »
Abends fand sich der eine oder andere Kunde in der gemütlichen Stube des Hauses ein. Meist zum Kartenspiel, begleitet von einem oder meist mehreren Gläschen Luxemburger Schnaps. Und all dem Gespräch und dem Tabakrauch, die damals zu einer Uucht gehörten.
Ende der 50er Jahre sah man erste Fernsehantennen auf den Dächern wachsen, nur sehr zögerlich wuchs aus den Nachkriegsjahren das, was man in Deutschland das Wirtschaftswunder nannte. Die glimmenden Röhrenradios mit dem warmen Klang wichen in den 60ern dem Transistor, aber alles geschah behutsam. Die Schallplatte boomte, es gab noch keine digitale Konkurrenz. Es waren Jahre des Aufbaus, Jahre in denen die Kinder dankbar für jedes Spielzeug waren. Lego, Meccano, Fleischmann, Schuco, Märklin hießen die Träume von uns Buben. Bis zu Gameboy und Playstation, zum Skateboard und den Rollerblades sollten noch viele Jahre vergehen.
Diese Zeilen mögen nicht missverstanden werden. Vieles hat sich zum Positiven geändert, einiges zum Schlechten. Aber in der Zeit der Hektik und des Lärms tut es gut, an eine Gemütlichkeit und an eine Stille zu erinnern, die man heute oft vergeblich sucht. Immer dann, wenn man vom tollen, modernen Firlefanz genug hat. Aber vielleicht ist Nostalgie ja auch nur ein Zeichen, dass man älter wird.
Das ganze Team vom Cliärrwer Kanton wünscht Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, frohe Weihnachtstage und ein glückliches, neues Jahr.