Léon Braconnier

Vom unwiderstehlichen Charme der Brennnesseln

Es stimmt, die sogenannte Krise lässt häufig keinerlei Alternativen zu bitteren Entscheidungen zu, Damoklesschwerte, die viele von uns jetzt oder in naher Zukunft schmerzhaft treffen. Allein der Blauäugige kann sich noch in der Illusion wiegen, es gäbe sichere Häfen. Denn die See ist stürmisch, unter den düsteren Himmeln der Alltag mittlerweile rau. Waren sie also doch nicht so erstrebenwert, die Tugenden der Moderne: die unersättliche Gier nach Geld und Prestige, die ach so geile Sucht nach Macht und Einfluss, der häufige Glaube, den anderen überlegen zu sein?

Doch vermag man der aktuellen Situation nicht auch Positives abgewinnen?

Wurde nicht in der Vergangenheit (und auch noch heute) viel zu viel unter den Teppich gekehrt? So manches nicht hinterfragt? Man kann der neuen, fast gläsernen Offenheit durchaus Sympathien entgegen bringen. Am Beispiel des Christian Wulff offenbart sich der ganze Zwiespalt. Jede Woche neue Enthüllungen, immer das gleiche Schema. Die verlockende Sucht nach Glamour und schönem Schein, Vermischung von Privatem und Geschäftlichem. Am Ende war die Situation für einen Präsidenten des Deutschen Bundes unhaltbar, übrigens lange vor der Anfrage der hannoverschen Staatsanwaltschaft, die Immunität aufzuheben. In der Vergangenheit genoss das Amt des Bundespräsidenten stets Respekt und Ansehen. Dieser Bonus war aufgezehrt. Auf der anderen Seite müssen sich aber auch die Medien die Frage gefallen lassen, ob es manchmal nicht doch des Guten ein bisschen viel war, ein an sich (zu?) Leichtes, einen Mann vor sich her zu treiben, der in dieser peinlichen Affäre nicht durch besonderes Geschick auffiel, und dem ohnehin von Anfang an jedes Gespür abging.

Nun berührt uns das filmreife Schicksal des Christian Wulff natürlich nur indirekt, dieses Beispiel mag aber den Vertrauensverlust illustrieren, der sich zwischen Bürgern und Politik, Kirche, Sport, Medien und Finanzwelt installiert hat. Überrascht, ja überrumpelt und enttäuscht ob so vieler Lügen, Intrigen, Verrat und krimineller Machenschaften driftet so mancher immer weiter in eine Welt voll Zweifel und Misstrauen.

Ob die rezente Evolution nun die Chance einer offenen und ehrlichen Welt in sich birgt, auch diese Hypothese ist alles anders als gesichert. Man liegt jedoch nicht falsch, wenn man das In-Frage-Stellen akzeptiert im Sinne eines Ausbruchs aus eventuell verkrusteten Strukturen.

In unserer Region sollte man diese Einleitung dahingehend betrachten, dass auch das Nordösling hoffentlich vor einem Aus- und Aufbruch steht. Es geht darum, das zweifellos vorhandene Potenzial auszunutzen. Dazu braucht es neben Weit- und Übersicht allerdings auch die Gabe, Realität korrekt einzuschätzen. Beispiel: der Tourismus, immer schon als Standbein des Öslings gepriesen.

Doch genau dieses Geschäft ist in Luxemburg, wie Jean Schintgen, immerhin 35 Jahre lang Generalsekretär der Horesca, in einem Tageblatt-Interview (9.März 2012, Seite 13) betonte, die drei letzten Jahre rückläufig.

Eben über diesen Tourismus redeten wir. Ein guter Bekannter und ich. Es hatte vor nicht allzu langer Zeit eine Studie gegeben, es war ausgewertet worden, wie Urlauber unser touristisches Angebot wahr genommen hatten. Die halbwegs ermutigenden Zeilen waren schnell gezählt, die anderen teilweise so niederschmetternd, dass die Studie erst gar nicht veröffentlicht wurde. Und mein guter Bekannter sagte: wir müssen endlich einsehen, Hügel gibt es überall.

Verregnete Sommermonate wohl auch.

Tatsächlich, in Zeiten der universellen Mobilität muss man neidlos anerkennen, dass es auf der Weltkarte neben unserem Ösling noch etliche sehens- und erlebenswerte Landstriche gibt. Ein Faltblatt eines lokalen „Syndicat d’Initiative“ mit Wald- und Wiesenfotos und Angabe der Kilometerzahl der Wanderwege mag nostalgisches Flair besitzen, es wird kaum jemanden im In- und Ausland vom Hocker reissen. Die Kantonalhauptstadt mag topographisch gesehen eine der schönsten Ortschaften des Landes sein,

  • die in Clerf nicht enden wollenden Strassenarbeiten mit zum Teil seltsam anmutenden Ampelanlagen stehen einer behaglichen Stimmung diametral gegenüber
  • seit fast 2 Jahren rauben an jedem Wochentag an die 20 Lieferwagen mitten im Ortszentrum nicht nur Parkplätze, sondern die mit ihrer Präsenz verbundenen Tätigkeiten sorgen für alles andere denn für eine Oase der Ruhe
  • Clerfs Hauptattraktion, die weltbekannte Expo Family of Man, ist auf Jahre geschlossen
  • wer wagt schon eine Prognose wann der Turm der Benediktinerabtei, jede Saison tausende Male fotografiert, wieder ohne Baugerüst stolz in den Himmel ragt?
  • Und wer traut den im Juli so lustig von einer zur anderen Seite der Fussgängerzone baumelnden aber leider verblichenen EU Fähnchen wirklich zu, Urlauber und Einheimische herbei zu locken?
  • einen Schönheitspreis verdient definitiv der riesige Sendemast den die CFL mitten im Klatzewee vor das Schlosspanorama gepflanzt hat

Diese wenigen Feststellungen mögen das Auseinanderklaffen zwischen Realität und Wunschdenken illustrieren. Schon mein Vorgänger René Maertz forderte beharrlich ein Gesamtkonzept für unsere Gegend. Es scheint notwendiger denn je! Auch die besten punktuellen Massnahmen sind letztendlich wie Tropfen auf dem heissen Stein, verdampfen ohne nachhaltige Wirkung. Nein, es stimmt so vieles nicht mehr in der einstigen Touristenhochburg Ösling.

So braucht ein Wanderweg normalerweise Pflege, durch Waldarbeiten verursachte Schäden müssten sofort repariert werden. Das eingesetzte schwere Material hinterlässt Pfützen und Morast, beeindruckende Fahrrinnen, verletzte Baumstämme, dazu gesellen sich Brennnesselkolonien en gros, während ganze Sammlungen von Unrat so manchen Waldpfad einer Abfallmeile verdammt ähnlich aussehen lassen. Aber wer weiss, vielleicht unterliegt mancher Urlauber ja gerade dem wilden und etwas seltsamen Charme alles überwuchernder Brennnesselarmeen.

Umdenken tut not. Die Angebote von vorgestern ziehen nicht mehr.

Uns allen ist die Zukunft des Öslings beileibe nicht gleichgültig. Der Bau eines Lyzeums wird das Leben an der Nordspitze des Landes entscheidend verändern. Begreifen wir dieses als ein Signal zum Aufbruch. Wir sollten den Mut aufbringen, mehr als in der Vergangenheit, die Dinge beim Namen zu nennen. Wir brauchen Sauerstoff!

Vorhandenes Potenzial mag durchaus beruhigend wirken. Aber damit allein werden wir nicht weit kommen.