Léon Braconnier
Über die wahre Bedeutung des Lärms
Vor langer, langer Zeit herrschte Stille auf der Erde. Na ja, ganz still war es eigentlich nie. Millionen Jahre spielten die Laute der Natur ein pastorales Konzert im besonnenen Rhythmus der Jahreszeiten. Das Rauschen der Bäume, das Prasseln des Tropenregens, das geheimnisvolle Flüstern der Pappel im Sommerwind, das Grollen und Donnern des Gewitters, wenn die grimmigen Himmel Schwarz trugen und in ihrem Zorn Schreie von Licht auf die Erde schleuderten. Alle Geräusche bewegten sich auf dem letztendlich schmalen Frequenzspektrum, das die unendliche Güte des lieben Gottes seiner Schöpfung mit auf den Weg gab.
Auch der Schrei des Kauzes vermochte nur ganz sacht den Schleier zu bewegen, den die Stille vor die Tiefe der Nacht gehängt hatte. Das kristallklare Wasser der Bäche, ja es war wohl etwas anmaßend, wenn es mit quirligem Plätschern prahlte, welch tiefe Täler es grub. Und mag sein, dass sich im Gesang der Vogelschar die eine oder andere falsche Note verbarg, sie ging im fröhlichen Gezwitscher unter.
Ja, tausend Geräusche bevölkerten die Welt, vom Rauschen des Meeres bis zum Pfeifen des Wüstensturms, vom Gesang der gewaltigen Orkas bis zum Piepsen der Zwergmaus.
Aber geben wir es ruhig zu: die Situation war festgefahren.
Ein Glück, dass mit den Jahren zweibeinige, allseits geschätzte Geschöpfe Gottes, neue Generationen von Geräuschen erfanden. So erfanden sie besonders harmonische Laute, die sie Musik nannten, und die Musik verband die Geschöpfe mit der Unendlichkeit des Alls. Ja, die Geschöpfe schufen Musikinstrumente die mal lieblich und feinfühlig klangen, mal frech posaunten. Gesang und Musik ließen die Bewohner des Planeten zusammen rücken. Manchmal sogar sehr eng.
Aber an manchen Zeiten orientierte sich der Erfindungsgeist der Menschen in andere Richtungen. So, an einem weit zurückliegenden Tag, es war ein schwarzer Tag, da rührte man mit Salpeter, Holzkohle und Schwefel ein schwarzes Pulver, das nicht nur krachen und blitzen kann, sondern seitdem auch Vater ungezählter Tode ist. Im Mittelalter taufte man das schwarze Pulver „Donnerkraut“, und tatsächlich, mit diesem einen Knall an besagtem schwarzen Tag hatte der Mensch den Lärm erfunden, der seitdem mit Riesenschritten den Planeten erobert.
Ein Meilenstein in der Verbreitung des Lärms war ohne Zweifel die Erfindung von Dampfmaschine und Verbrennungsmotor. Damit war die Menschheit dem Ziel, dem Planeten Erde im Weltall eine vernehmbare Stimme zu geben, entscheidend näher gekommen. Der Planet Erde hat sich nun endlich Gehör im Universum verschafft, und nur Besserwisser und Nörgler warnen, man solle aufpassen, nicht doch etwas vorlaut zu werden. Letztere steigern sich sogar gelegentlich zu der Behauptung, der Mensch, der ja nun das Pulver erfunden hat, schieße gerne über das Ziel hinaus. Er tue zu viel des Guten. Aber wir, die guten Willens sind, glauben an den Lärm. Denn Potential hat er allemal. Gewaltiges Potential. Die Erde, Tenor, Bass und Pauke unter den Sternen!
Jeder versteht, dass die potenten Städte und die dichten Ballungsgebiete die Lautsprecher unseres Planeten sind. Das liegt in der Natur der Sache. Aber auch auf dem Land kann man zum Glück in Punkto Lärm bemerkenswerte Fortschritte verzeichnen. Die Zeiten des beschaulichen Lebens sind längst vorbei, nur Ewiggestrige träumen noch von Glockengebimmel und vom albernen IA des Esels.
Was sich vor allem am Wochenende, aber nicht nur dann, in unseren Dörfern in Punkto Geräuschkulisse aufbaut, hat in der Tat mit Beschaulichkeit wenig am Hut. Ja, es ist schon beeindruckend, das akustisch vielschichtige Open-Air Konzert der Rasentraktoren und -mäher, der Freischneider, Vertikutierer, Heckenscheren, Motorsägen, Motorhacken, Motorsensen, Laubbläser, Kehrmaschinen, Hochdruckreiniger, Häcksler und Holzspalter. Tag für Tag werden auf dem ehemals öden Land wahre Symphonien aufgeführt, und es fällt auf, dass es kaum sanfte Passagen gibt. Jedes Wagner-Opus ist bestenfalls eine Ultra-Light-Version einer echten grünen Vorgartensymphonie. Das nenne ich Power!
Von Sonnenaufgang bis zu ihrem Untergang wechseln sich die Orchester ab, neigt sich nach stundelangem Einsatz eine Partitur dem Ende zu, übernimmt eine neue in fliegendem Wechsel. Vom Rattern und Knattern über das Heulen und Pfeifen bis zum Jaulen, Klopfen, Quietschen, Dröhnen, Hämmern, Vibrieren, Summen und Brummen, eine derart akustische Vielfalt stünde jedem Orchester gut zu Gesicht. Und wenn dann noch abends im Bierzelt die Party steigt, ungezählte Watt stark, dann steht dem vollkommenen Glück nichts mehr im Weg.
Auch Wald und Wiese erfreuen sich am knatternden Sound der allseits beliebten Quads, auch wenn letztere, geben wir es zu, manchmal etwas gequält und angestrengt wirken. Und wer hat nicht schon das Frohlocken des Kumulus, der Haufenwolken beobachtet, wenn fliegende Objekte mit Rasenmähermotor ihre Runden drehen, auch hier mit etwas gequält wirkendem Klang. Aber daran wird man noch arbeiten. Etwas potenter könnte das Ganze schon klingen.
Aber nun zu der wahren Bedeutung des Lärms: längst ist das „Ich denke, also bin ich“ dem weit aktuelleren „Ich lärme, also bin ich“ gewichen. Letzteres ist bei etlichen Zeitgenossen übrigens weit produktiver als das „ich denke“. So begegnen durch Lärm und Lärmen tagtäglich Millionen von Menschen dem Sinn und der Tiefe ihres Daseins. Ich mache Lärm, also bin ich. Und wenn ich viel Lärm mache, ja, dann bin ich noch mehr. Was im ersten Moment und oberflächlich betrachtet als riesiger Krach erscheinen mag, ist in Wirklichkeit die absolute Erfüllung einer zutiefst menschlichen Sehnsucht: die essentielle Suche nach dem Sinn des Lebens.
Eine Wucht, wenn man Bauschutt mit Karacho auf den Hänger schmeißen kann. Geil, wenn Kompressoren und Presslufthämmer den Rosenkranz in den Gassen beten, und supergeil, wenn am Wochenende schier endlose Kolonnen von zum Teil mit viel Sachkenntnis getunten Motorrädern über kurvenreiche Landstraßen fliegen. Ihrem hochtourigen Konzert ist in sämtlichen Ortschaften der uneingeschränkte Enthusiasmus der Bevölkerung sicher.
Ein Glücksfall, dass auch in der Woche die gekühlten Lastwagen, die alles Frische aus der Provinz herbeibringen, stundenlang für einen akustischen Background sorgen. Denn gerade zu peinlich, beklemmend, bedrohlich, vermutlich gar gesundheitsschädigend wäre es, wenn Passanten und Anwohner für längere Zeit der Lärmlosigkeit ausgesetzt wären.
In diesem Sinne, wie die Mönche in der Clerfer Benediktinerabtei diese bedrückende Stille überleben und dabei auch noch alt werden, das wird mir auf ewig ein Rätsel bleiben.