André Bauler
Identitätsstiftend. Unverwechselbar! Bedroht?
Die Öslinger Baukultur im Zeichen des gesellschaftlichen Wandels
Bis auf wenige Ausnahmen gehören die alten Öslinger Dörfer, wie wir sie noch aus unserer Kindheit kennen, der Geschichte an. Ihre typische Struktur hat sich im Laufe der Jahrzehnte und im Zuge des wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs zusehends verändert.
Ein Glück, dass einige Dörfer ihr traditionelles Bild größtenteils bewahren konnten. Lellingen im „Kiischpelt“ ist eine solche Ortschaft. Auch Weicherdingen in der Gemeinde Clerf weist noch so manche Bauten des 18. und des 19. Jahrhunderts auf, etwa die ehrwürdige Pfarrkirche mit dem beeindruckenden Zwiebelturm, das ehemalige Pfarrhaus oder verschiedene Gehöfte. Sie machen den Charme dieser Dörfer aus und zeigen fremden Besuchern, wie ländlich geprägte Ortschaften früher einmal aussahen.
Übrigens, als Großherzog Henri am vergangenen 22. Juni unsere Bibliothek besuchte, zeigten wir ihm ein Foto auf dem sein Vater, Großherzog Jean, mit dem heutigen japanischen Kaiserpaar zu sehen ist. Im März 1983 stattete das noble Paar aus Nippon Prof. Bourg und seiner Gemahlin im Rahmen einer Staatsvisite einen Besuch in deren Bauernhaus, einem typischen Öslinger Hof, in Weicherdingen ab. Tony Bourg zeigte damals, was unter einer „gudder Stuff“, einer „Haascht“ und einem „Takeschaf“ zu verstehen ist. Es ging darum, den weitgereisten Gästen unsere ländliche Baukultur hautnah zu zeigen. Am 17. Juni 2011 wurde das Bauernhaus des Ehepaares Bourg in die Liste der denkmalgeschützten Immobilien des Clerfer Kantons aufgenommen.
Solche denkmalgeschützten Gebäude gibt es auch und gerade in unseren europäischen Nachbarländern. Etliche Regionen unseres Kontinents zeichnen sich durch gepflegte Bauern- oder Herrenhäuser aus, die zum Teil auch touristisch genutzt werden. Diese vielfach historischen Gebäude sind mehr als eine architektonische oder kulturelle Attraktion. Sie stiften Identität, prägen die Kulturlandschaft und verleihen dieser einen unverwechselbaren Charakter.
Wer träumt nicht vom einzigartigen Ambiente toskanischer Gefilde oder von den pittoresken Winzerdörfern in Burgund oder im Elsass? Die organisch gewachsene Architektur dieser Ortschaften ist das Resultat einer jahrhundertealten Bautradition, welche mit den Materialien der Gegend sowie den Fertigkeiten ihrer Steinmetze, Bildhauer und Malermeister einmalige Stimmungen geschaffen hat, die ein regelrechtes Wir- und Wohlgefühl ermöglichen. Tourismus existiert ja nicht durch sich selbst, sondern resultiert aus dem harmonischen Zusammenspiel von Natur, Kultur und Architektur.
Dank mancher restaurierungsfreudiger Bürger konnten auch hierzulande Bauern-, Handwerker-, Pfarr- oder Tagelöhnerhäuser erhalten werden. Sie sind die letzten Zeugen unserer einheimischen Bautradition und haben die Ardennenoffensive überlebt. Ihre Geschichte geht zum Teil bis auf das 16. Jahrhundert zurück. Das Ulflinger „Schuddenhaus“, das um 1605 errichtet wurde oder das Herrenhaus in Oberwampach aus dem Jahre 1548 sind zwei dieser seltenen Gebäude, die uns erhalten geblieben sind. Ihre Mauern und Zimmer haben eine untrügliche Strahlkraft, sie schenken Geborgenheit, atmen Geschichte.
Dass die Architektur unserer Öslinger Dörfer insbesondere in den letzten Jahren einem steten Wandel ausgesetzt war und ist, bestreitet niemand. Zum einen ist dies auf die strukturellen Veränderungen in der Landwirtschaft zurückzuführen. Rationalisierungsbestrebungen im Agrarsektor verlangen funktionalere Gebäude, die sich leichter, sprich effizienter bewirtschaften lassen. Der klassische Bauernhof, mitten im Dorf gelegen, ist mittlerweile zur Ausnahme geworden. Aussiedlerhöfe bestimmen unser Landschaftsbild. Mit ihren großen Scheunen und Stallungen, ihren Silos und Geräteschuppen, liegen sie am Rande der Dörfer, in der Grünzone.
Daneben hat sich die ländliche Architektur aufgrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte deutlich verändert. Neue Materialien und hiermit einhergehende energietechnische Ansprüche sind Ursprung alternativer Architekturformen. Das gewohnte Aussehen unserer alten Landhäuser mit ihren bescheidenen Grundrissen, ihren dunklen Schieferdächern und weißen Fassaden, das noch in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts unsere Dörfer prägte, wird nach und nach durch funktionalere Bauten, wie z.B. Wohnblöcke mit Mietwohnungen, verändert.
Dass solche Umgestaltungen durchaus im Respekt mit historischen Gebäuden vollzogen werden, zeigen treffende Beispiele, im Ösling und anderswo. Nutzt man ehemalige Bauerngehöfte für zusätzlichen Wohnraum, werden sie neu belebt und stärken damit unsere lokalen Gesellschaften.
Ja, unsere Dörfer sind heute mehr denn je einem strukturellen Wandel unterworfen. Der erhebliche Druck auf dem Immobilienmarkt geht nicht spurlos an ihnen vorbei. Staat und Gemeinden obliegt daher die Aufgabe, dafür zu sorgen eine ausgeglichene Dorfentwicklung zu ermöglichen.
In diesem Prozess verfügt die öffentliche Hand über eine entscheidende Lenkungsfunktion. Sie besitzt Instrumente, mit denen dieser gelingen kann. Manche Gemeindeväter haben erkannt, dass unsere Dörfer ihre Eigenart, so weit wie nur irgend möglich, bewahren sollen, so z.B. die Gemeinde Tandel, die auf diesem Feld eine Vorreiterrolle spielt. Auch unsere Naturparks haben eine besondere Verantwortung, wenn es um den Respekt des kulturellen Erbgutes geht. Das Gesetz vom 10. August 1993 sieht dies ausdrücklich vor.
Wir bewegen uns heute also in einem Spannungsfeld zwischen architektonischer Tradition und gesellschaftlichen Herausforderungen, zwischen dem Auftrag unsere kulturelle Identität so weit wie möglich zu bewahren und neue Bautechniken zuzulassen. Es wäre schlicht naiv zu meinen, alles müsste so bleiben wie es früher einmal war, wohlwissend, dass früher auch nicht alles Gold war, was einmal glänzte – ganz im Gegenteil. Unsere Vorfahren mussten viel und schwer arbeiten, vor allem körperlich. Sie waren vielleicht weniger gestresst als wir, ernährten sich wahrscheinlich gesünder und litten nicht unter den zahllosen Verlockungen der digitalen Gesellschaft. Dafür mussten sie aber, sowohl in ihrem Beruf als auch in ihrem Alltagsleben, auf so manche Annehmlichkeiten und auf eine wirkungsvolle medizinische Betreuung verzichten.
Wollten wir nur potemkinsche Dörfer bewahren, leblose Kulissen also, die man ausschließlich zum Schlafen nutzt, so verlören unser Ortschaften an Anziehungskraft. Wir brauchen daher beides: sich harmonisch eingliedernde neue Architekturstile und Wohnformen auf der einen Seite, Bewahrung und Neubelebung organisch gewachsener Dorfstrukturen andererseits.
Nur so bleiben unsere Dörfer Orte mit hoher Lebensqualität und einem angenehmen Wohngefühl.