René Maertz
Plädoyer für einen Kanton
« Der Kanton Clerf – ein Kanton ohne Zukunft? » war das Thema des Diskussionsabends vom 4ten Juli 1980 in Ulflingen.
Vordergründig war es ein Erfolg: ein überraschend großes Publikum; die Anwesenheit von drei Ministern, der Mehrzahl der Norddeputierten, der Mehrzahl der Gemeindevertreter lassen vermuten, daß die meisten Autoritäten sowohl die Bedeutung als auch die Dringlichkeit des angesprochenen Problemkreises erkennen. – Wie dem auch sei, all jenen, die ihr Interesse bekundet haben, einen herzlichen Dank.
Sollte das Debakel in der sozio-ökonomischen Struktur unserer Gegend sich in absehbarer Zeit ausweiten – und alle Anzeichen deuten darauf hin, es sei denn es träten kurzfristig unerwartete und positive Entwicklungen ein – so können die verantwortlichen Autoritäten von nun an kaum mehr zu ihrer Entlastung anführen, sie hätten vorher nichts von diesem Desaster bemerkt, oder sie seien von den Betroffenen nicht rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht worden.
Vernünftigerweise erwarten konnte man dagegen keine unmittelbar realisierbaren Lösungsvorschläge oder gar Allheilmittel für die Krankheit unserer Gegend. Aber: die vorgebrachten Forderungen, Vorschläge und Suggestionen verlangen in Betracht gezogen und in ein Gesamtkonzept eingefügt zu werden.
Tatsachen schreien nun einmal, auch wenn man ihnen nur eine leise Stimme leiht. Im nachhinein könnte man den in den verschiedenen Exposés der « Experten » erarbeiteten Tatsachenkatalog und dessen Interpretation als einen Nekrolog auf die irgendwie zufriedenstellende Vergangenheit und ein Lamento auf die Zukunft ansehen. Diese treffende Analyse sollte man keineswegs als Ausdruck von Wehleidigkeit und Selbstmitleid auslegen. Denn: was all die gutgemeinten Pläne und Überlegungen der vergangenen Jahrzehnte gebracht haben, ersieht man überdeutlich aus der heutigen Krisensituation. Das Resultat all dieser Projekte und Interventionen ist ungenügend, obwohl wir damit nicht behaupten wollen, daß keine Anstrengungen zur Verbesserung der Lage unternommen worden wären. Nicht Tourismus und Landwirtschaft allein vermögen die Bevölkerung in diesem Raum zu halten. Nicht Trostpflästerchen noch Einzelspritzen werden die Auslaugung der immerhin 12,5 Prozent des nationalen Territoriums verhindern.
Ein Gesamtplan, der alle Möglichkeiten berücksichtigt, stellt wohl heute die einzige Möglichkeit dar, das ökonomische, sozio-kulturelle und demographische Absterben unserer Region zu verhindern. Eine gezielte Regionalpolitik tut not. Ist das eine übertriebene, da nicht zu verwirklichende Forderung? Keineswegs. Wir glauben, daß die öslinger ein Anrecht auf intensive Hilfe haben, vorausgesetzt sie bringen auch selbst den Willen und die Kraft auf, sich zu helfen.
In Wirklichkeit verlangt ein solches, regional begrenztes Entwicklungsmodell nicht nur die Abkehr von gewissen Denkschemen, die als Basis den Immobilismus und als Regel das Rentabilitätsprinzip haben. Ohne deutliche, wenn auch zeitlich und räumlich strikt begrenzte Bevorzugung wird es weder Konsolidierungs- noch Entwicklungsmöglichkeiten geben. Die bei manchen Leuten bereits geistig vollzogene Abschreibung der Nordspitze wird wohl kaum von den Öslingern hingenommen werden.
An Argumenten gegen jeden Wiederbelebungsversuch fehlt es nicht. So ist jene, seit Jahrzehnten vorgebrachte Meinung, mit der man bisher fast jede Schaffung neuer Arbeitsplätze wegpolemisierte, kaum akzeptabel. Sie besagt schlicht, daß dort keine Erwerbsmöglichkeiten geschaffen werden können, wo keine spezialisierte Arbeitskraft vorhanden ist. Entspräche das der Wahrheit, so wären kaum jemals Industriebetriebe entstanden. Könnte man hingegen nicht genauso behaupten, vorhandene Beschäftigungsmöglichkeiten lockten Arbeitskräfte an? Es wäre wohl die vordringliche Aufgabe der staatlichen Autorität, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Oder gibt es in andern Ländern nicht auch gezielte Hilfen für stark benachteiligte Gegenden? Gibt es nicht sogar europäische Hilfefonds?
Zum andern kann man kaum annehmen, die bevölkerungspolitischen und ökonomischen Probleme seien in allen, mehr ländlichen Gegenden, gleich gelagert. In Wirklichkeit bestehen hier, neben den üblichen Problemen, spezielle, fast ausschließlich auf die Nordspitze bezogene Schwierigkeiten.
Die spezifische « Nordkantonkrankheit » resultiert vor allem aus dessen betont peripherer Lage. Das beinhaltet insbesondere die langen, z. T. unterentwickelten Verbindungen zu den Macht-, Industrie- und Kulturzentren der Hauptstadt und des Südens und die sich daraus ergebenden Folgen psychologischen Charakters. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte lehrt eindeutig, daß – im Gegensatz zu manch halboffizieller Meinung – der Kanton Clerf kaum als région-dortoir für Pendler anzusehen ist. Im Gegenteil: wir sehen allzu deutlich, daß die große Mehrheit unserer aktiven Bevölkerung, die im Süden oder im Zentrum beschäftigt ist, auf lange Sicht versucht, sich in der Nähe ihres Arbeitsplatzes anzusiedeln. So wird auf die Dauer ein Vakuum produziert. Darüberhinaus muß man feststellen, daß kaum ein junger Mensch, der sein Abschlußzertifikat im postprimären Unterricht, oder eine Spezialisation erworben hat, auch in seiner Gegend einen Arbeitsplatz findet. Hier gibt es Diplome für die Abwanderung.
Zum andern ist es für jeden Einwohner des Nordkantons klar, wie sehr die klimatischen Bedingungen während der schlechten Jahreszeit besondere Schwierigkeiten in Bezug auf Transport-, Heiz- und Kaufpreisprobleme heraufbeschwören. Daneben gibt es noch weitere, statistisch erfaßbare Besonderheiten dieses Raumes, auf die wir später noch eingehen werden.
Die Erkennung und die Anerkennung der Spezifität der Lage in der Nordspitze unseres Landes ist die Vorbedingung für eine annehmbare Gesamtplanung und eine dauerhafte Lösung bezüglich der Erhaltung einer tragfähigen Bevölkerungsbasis.
Diese Gegend lebensfähig zu erhalten, ist gewiß eine ungemein schwierige Aufgabe, andernfalls es wohl auch nicht zu dieser bedrohlichen Situation gekommen wäre.
Es ist klar, daß dringende Maßnahmen wirtschaftspolitischer Natur ergriffen werden müssen um Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen und damit den Bevölkerungsschwund einzudämmen. Geschieht das nicht, dann wird es bald noch viel mehr leerstehende Häuser geben, die Gewerbe und Handel zwingen ihre Anlagen aufzugeben, die manche Schulschließungen verursachen und die Verwaltungen in dichter besiedelte Gebiete abdrängen. Ist es nicht bezeichnend, daß in den Jahren, wo anderswo lautstark und tatkräftig um garantierte Arbeitsplätze gekämpft wurde, die öslinger sich nur in zaghaften Ansätzen aufgerafft haben, ihre wohlberechtigten Forderungen zu stellen. Haben wir schon aufgegeben? Das Gespenst einer nahezu menschenleeren Region wächst so deutlich, daß die Resignation sich allzuoft nur noch durch Abwanderung ausdrückt.
Somit wird ein etwaiger Notstandsplan wohl primär wirtschaftspolitischer Natur sein.
Doch wird es sich im wesentlichen um eine grundlegende landespolitische Entscheidung handeln müssen.
Nur die Frage, ob das Notstandsgebiet Nordkanton einer nationalen Hilfe würdig befunden wird, ob man bereit ist, eine intensive und damit aufwendige Förderung auf nationalem Plan zu verantworten, ist entscheidend.
Auf die Stellungnahmen zu dieser Frage werden die Betroffenen in Zukunft ihre ungeteilte Aufmerksamkeit richten. Denn, Lebenswichtiges ist stets dringlich und konsequent zu behandeln.