René Maertz

Das Land der Leere?

Falls man nicht energisch gegensteuert, wird unsere Region aller Wahrscheinlichkeit nach in wenigen Jahrzehnten die Heimat der Rentenempfänger und der Resignierten sein. Wohl wird es dann noch einige größere landwirtschaftliche Betriebe und, vielleicht, einige mittlere und kleinere Industrie- und Handwerksbetriebe geben; der Massentourismus wird während eines kurzen Sommers das Ösling « erschließen » und etwas Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Im Vergleich zu vorgestern und heute wird jedoch unsere Region ein Land der Leere sein.

Dazu beizutragen, diese Entwicklung einzudämmen, ohne dabei die Prärogativen und damit das Verantwortungspaket der nationalen und kommunalen Autoritäten anzutasten, war das Ziel des « Cliärrwer Kanton » während der vergangenen Monate. Aus dieser Optik heraus ist die Zusammenkunft des Verwaltungsrates unseres Vereins mit den Norddeputierten und den Bürgermeistern der Nordgemeinden zu verstehen, ebenso wie die Entrevue mit Premierminister Pierre Werner, als Präsident der Regierung. Alle angesprochenen Autoritäten scheinen die Problematik unserer Region einzusehen. Alle scheinen auch – mit mehr oder weniger Überzeugung – dazu entschlossen, ihren Rechten und Pflichten gemäß, sich darum zu bemühen, mehrere tausend Menschen vor weiterer Deklassierung zu bewahren.

Wie dem auch sei, in Zukunft wird keiner der Amtsträger auf kommunaler oder nationaler Ebene behaupten dürfen, er habe von dem extremen Ernst der Lage nichts gewußt. Es geht hier um mehr als um das Knurren jener, die ihren täglichen Knochen bedroht fühlen. Es geht um die soziale Existenz unserer Gegend, die immer mehr dabei ist, dem tragischen, weil erzwungenen Exodus zum Opfer zu fallen. Dieses Abgleiten ins sozio-ökonomische Nichts wird die Bevölkerung nicht ohne heftige Reaktionen hinnehmen.

Ohne uns leeren Hoffnungen zu verschreiben bewerten wir als durchaus positiv, daß die Bürgermeister und Norddeputierten mit uns den Alarmbrief an den Regierungspräsidenten unterzeichneten, sowie auch die Aufgeschlossenheit des Premierministers gegenüber dieser Problematik.

Zu vorsichtigem Optimismus gibt vornehmlich die Tatsache Anlaß, daß, dem Versprechen des Premierministers gemäß, die Regierung in ihrer Sitzung vom 12. Februar 1982 vorbereitende Studien und Pläne zur Behebung des ökonomischen Ungleichgewichts im Kanton Clerf beschlossen hat. Dafür sei an dieser Stelle allen Beteiligten, den Bürgermeistern, Norddeputierten und den Herren Ministern unser aufrichtiger Dank ausgedrückt.

Es gibt nun aber Tatsachen, die nachdenklich stimmen. Da wird zum einen behauptet, der Kanton Clerf verfüge nicht über eine brauchbare Infrastruktur. Wir meinen dagegen, daß rezenterweise Industrien in Gegenden eingepflanzt wurden, die sicherlich keinen besseren Unterbau boten. Zum ändern übersieht man immer wieder die Eigenart, die Spezifität der Problematik unserer Region: die Distanz zu den Industrie- und Machtzentren sowie die klimatischen Gegebenheiten. Desweiteren will man plötzlich dem Kanton Clerf nur Arbeitsplätze für die im Kanton ansässigen Arbeitskräfte bewilligen. Dies würde natürlich die Gründung eines größeren Industriebetriebes unmöglich machen. Somit können wir auch mit der obengenannten Beschränkung der Arbeitsplätze nicht einverstanden sein. – Wir sind nämlich der Meinung, daß offene Arbeitsplätze die Arbeitsuchenden anziehen. Beispiele dafür gibt es ja mehr als genug. Schließlich – und dies ist besonders beunruhigend – gibt es Expertenkreise, die die Mentalität und das psycho-soziale Gefüge der Einheimischen weder kennen noch berücksichtigen. In diesem Zusammenhang stimmt uns das großherzogliche Reglement vom 2. Februar 1981 betreffend die partielle Landesplanung und Schaffung von Industriezonen – in Regionen anderweitig als im Süden – sehr bedenklich. Wir sind der Meinung, daß dieser Plan praktisch das Todesurteil für die Nordspitze bedeutet. Eigentlich müßten doch Experten dem gesunden Menschenverstand das Vorrecht lassen. Im übrigen wissen wir sehr wohl, daß Verantwortliche, sowie sie mit dieser oder jener Frage konfrontiert werden, durch ihr Schweigen mehr aussagen als mit vagen Antworten. Wir wiederholen: die öslinger Bevölkerung bittet den Staat nicht um Geschenke. Sie fordert nur ihr Recht, Anrecht auf sozio-ökonomische Konsolidierung, erworben durch jahrzehntelang erzwungene Abwanderung im Interesse anderer Landesteile.

Hilfe für unsere ausgeblutete Region ist wohlweislich von einer Entscheidung, welche die wirtschaftlichen Aspekte betrifft; abhängig. In erster Linie aber wird es sich um einen politischen Entscheidungsprozeß handeln. Stellt man in Rechnung, wieviel tausend Arbeitsplätze in den vergangenen Jahrzehnten in den Nachbarkantonen geschaffen wurden und wie dürftig, um nicht zu sagen inexistent, die Arbeitsplatzbeschaffung bei uns ausfiel, so kann man sich kaum der Annahme verschließen, daß politische Motive für diese Entwicklung maßgeblich waren.

Was wir brauchen sind nicht Rand- und Kleinstbetriebe, wie sie schon so oft in die Diskussion geschoben und nie verwirklicht wurden. Was wir fordern müssen, sind industrielle Mittelbetriebe, die insgesamt mehrere hundert neue Arbeitsplätze bieten würden. Das wird die Bedingung für jede soziale Konsolidierung – und nicht mal für soziale Anreicherung -sein.

Man wird sich fragen, wieso eine Vereinigung, die sich überwiegend der Arbeit auf kulturellem Gebiet verschrieben hat, Initiativen auf sozio-ökonomischem Gebiet ergreift. Der Grund dafür ist ebenso einfach wie einleuchtend: jede kulturelle Manifestation in unserer Gegend stößt auf enge soziale und ökonomische Schranken. Es gilt demnach, zu versuchen, die Atmosphäre der Angst und der Selbstaufgabe durch Absicherung der ökonomischen Grundlage dieser Gegend weniger erdrückend und hemmend zu gestalten. Für viele Menschen sind die kulturellen Ansprüche und Verwirklichungen eher belanglos. Und nun muß man sich die Frage Stellen, inwieweit die Förderung und Erfüllung der kulturellen Bedürfnisse vielleicht auch das geistige Potential einer Bevölkerung zu bereichern vermag – ganz abgesehen von der Erhöhung der Lebensqualität. Falls die wirtschaftliche Entwicklung unserer Region in Angriff genommen werden sollte, wird man diese geistige Potenz bitter nötig haben. In diesem Zusammenhang möchte man sich fragen, ob nicht etwa die seit Jahrzehnten getätigte Abwanderung, ja, Abschleppung des geistigen Kapitals einer der Hauptgründe für die desaströse Lage unserer Gegend ist.

Daß aber kulturelle und geistige Bedürfnisse noch vorhanden sind, beweist unter anderem die Mitgliederzahl des « Cliärrwer Kanton », die sich Ende 1981 auf rund 1.200 belief. Erfreulicherweise befinden sich darunter viele sogenannte « kleine Leute », Bauern, Arbeiter, die von berufswegen kaum etwas mit Kulturellem im Sinn haben. Dies ist übrigens einer der Gründe, weshalb wir bei einem sozialen Mitgliedsbeitrag von 300 F pro Jahr geblieben sind. Somit reicht der Kassenbestand auch nur knapp für die Herausgabe unserer Zeitung, wobei nur die Druckkosten berücksichtigt werden. Unsere Mitarbeiter, denen wir an dieser Stelle einen herzlichen Dank aussprechen möchten, arbeiten gratis.

Nun beabsichtigt der Verein aber, satzungskonform, seine Ausstellungen und Vortragsabende beizubehalten. Darüberhinaus möchte der « Cliärrwer Kanton » seine Sammlung von Dokumenten, Zeitschriften und Büchern, die Bezug auf die Gegend haben, vervollständigen, um sie den Interessenten zur Verfügung zu stellen. Wir hoffen nämlich, dadurch manchem Mitbürger seine Heimat menschlich näher zu bringen, verständlicher zu machen und erhaltenswürdiger erscheinen zu lassen. Nun fehlt aber das Geld. Die meisten Gemeindeautoritäten und das Ministerium für kulturelle Angelegenheiten hatten uns finanzielle Starthilfe zukommen lassen. Einige dieser Quellen scheinen zu versiegen.

In einer Zeit, wo trotz Nostalgieanfällen die zeitliche Dimension des Gestern weitgehend erloschen, wo das « Erfolgsbild » der Gesellschaft einseitig vom Materiellen geprägt wird, wo die Banalität eines überlegungslosen Alltags das Maß der Dinge bedeutet, ist es kaum verwunderlich, wenn « öffentliche Hände » offener sind für Greifbares. Begreifen lohnt sich nicht immer.

Und trotzdem: es gibt Anzeichen, die voraussehen lassen, daß einige Gemeindeautoritäten eine andere Gewichtung bei ihrer Subsidienpolitik zugunsten des geistig-kulturellen Sektors vorzunehmen gedenken. Für unsere Gegend wäre dies wohl ein nicht zu übersehendes Zeichen für eine günstige Entwicklung – auch auf kulturellem Gebiet.