Léon Braconnier

Inseln der Hoffnung

Jahreswechselzeit ist wohl immer Zeit der Bilanz, des Blickes zurück, der Aussicht nach vom. Jahreswechselzeit, Herbst der verpaßten Möglichkeiten, Winter der Genugtuung, Frühling der Hoffnung, Sommer der Illusionen.

Es obliegt dieses Jahr einem jungen Präsidenten, diese Zeilen zu schreiben, jene Seite zu füllen, welche seit Beginn des « Cliärrwer Kanton » die Seite des René Maertz gewesen ist. Du wirst diese Worte nicht mögen, René, aber es sei mir an dieser Stelle gestattet, Dir im Namen aller Mitglieder und Freunde ein aufrichtiges und herzliches Danke auszusprechen. Wie kein zweiter hast Du die Problematik des Nordkantons nicht nur erkannt, sondern so klar zu umreißen und unmißverständlich zu formulieren gewußt, daß das Resultat Deiner Bemühungen als voller Erfolg bewertet werden muß.

Der Weg des « Cliärrwer Kanton » war von Beginn an ein schwieriges, hindernisreiches Unterfangen. Der Versuch, durch kulturelle Belebung die Lebensqualität unserer Gegend zu erhöhen, mag belächelt worden sein, unsere Anstrengungen, die Aufmerksamkeit der Regierenden auf sozio-ökonomische Mängel des Clerfer Kantons zu lenken ist wohl nicht überall mit Begeisterung aufgenommen worden.

Und doch, der Erfolg hat uns Recht gegeben. Es ist uns eine in solchem Ausmaß nie erwartete Bewußtseinsbildung der Öslinger gelungen, ein Zusammenrücken der Bevölkerung, der « Forces vives » unserer Gegend, und auch die « Altöslinger » wurden durch ihre überaus zahlreichen Sympathiebekundungen zu einer nicht zu unterschätzenden Hilfe.

Wenn auch noch vieles zu tun bleibt, auf

KULTURELLEM GEBIET

haben wir manches erreicht. Hauptaktivität des « Cliärrwer Kanton » war und bleibt die Herausgabe unserer an die 1500 Abonnenten zählenden Zeitschrift, welche erfreulicherweise Bestandteil vieler Luxemburger Privatbibliotheken geworden ist. Weit über 1000 Seiten Dokumente, Geschichte und Geschichten, Informationen und Pläne, Fotos und Zeichnungen, stellen in unserer Pressewelt einmaliges dar. Erinnern wir uns noch einmal daran, daß sämtliche Artikelschreiber dies unentgeltlich tun. Schönere Liebeserklärungen an eine Gegend kann man sich kaum vorstellen.

Unsere Gemäldeausstellungen sind Tradition geworden, haben Fuß gefaßt in der harten Öslinger Erde. Unser Anliegen soll auch weiterhin sein, dem Publikum eine möglichst breite Palette anerkannter Künstler zu bieten, verschiedene Techniken, Auffassungen und Wege vorzustellen.

Vieles liegt auf dem Planbrett; Autorenlesungen, Vorträge, Fotowettbewerb, Diskussionsabende stehen ins Haus. Wenn auch die Publizität für Ähnliches unsererseits in der Vergangenheit etwas dürftig gewesen sein mag, möchten wir hiermit einen warmen Appell an die Einwohnerschaft richten, kulturellen Veranstaltungen beizuwohnen.

Im Jahre 1961 wurde dem Staatsarchiv in Luxemburg seitens der Archives Départementales in Metz der größte Teil des Clerfer Schloßarchivs in Form von Mikrofilmen übergeben. Inwieweit schlummern diese nicht nur für das Clerfer Schloß, sondern für die ganze Gegend äußerst wertvollen Dokumente noch in ihrem Dornröschenschlaf? Wann wird die Regionalgeschichte endlich in ihrer Gesamtheit erforscht, nicht nur stückweise, nicht auf Anekdoten oder Legenden reduziert, obwohl auch diese aus dem Schatz unserer bewegten Vergangenheit nicht wegzudenken sind?

Daß Clerf über die Luxemburger Autorentage hinaus zu einem nationalen Literaturzentrum werden soll, mit Autorenlesungen und der alljährlichen Verleihung des « Prix littéraire », bedeutet sicher mehr als nur einen Lichtblick und wir möchten dem Kulturministerium unsere Anerkennung zollen. Auch die von René Maertz stammende Idee, den altehrwürdigen Burgunderturm zu einer Wohn- und Werkstätte umzufunktionieren, welche man Künstlern für mehrere Wochen oder Monate zur Verfügung stellen könnte, ist bei den Verantwortlichen des Ministeriums auf fruchtbaren Boden gefallen. Überhaupt freuen wir uns über eine gewisse kulturelle Belebung; neue, dynamische Theatergruppen sind entstanden, auf der Asselborner Mühle bereichert eine Kunstgalerie unsere Kulturlandschaft und auch die von Anne Fabeck ins Leben gerufene « Molköscht » in Ulflingen erfreut sich zahlreicher Malschüler.

Wenn Kultur ohne Zweifel die Lebensqualität erhöhen kann, indem sie dem Menschen das Fußfassen in sich selbst und in seiner ihm vertrauten Umgebung erleichtert, ihm in seiner Entfaltung neue Dimensionen eröffnet, so sollte man andererseits die Wechselwirkung der sozio-ökonomischen Umwelt auf das kulturelle Potential der Bevölkerung nicht unterschätzen. Aus diesem Grunde hatten

WIRTSCHAFTS- UND BEVÖLKERUNGSPOLITISCHE FRAGEN

für den « Cliärrwer Kanton » stets eine prioritäre Bedeutung. Wir haben größtes Engagement an den Tag gelegt, und das Resultat unserer Bemühungen war das Erstellen einer Diagnose. Was die auf Betreiben des Clerfer Bürgermeisters Michel Wehrhausen bei dem Schweizer Planungsbüro URBAPLAN in Lausanne bestellte und bereits im Februar 1978 (!) veröffentlichte Studie zur ökonomischen und demographischen Lage im Clerfer Kanton schon klar und unmißverständlich forderte, nämlich sofortige und spezifische Hilfe für unsere Gegend, wurde, durch die Regierungsstudie vom Dezember 1983 bestätigt.

Jene, die uns der Schwarzmalerei bezichtigen wollten, sollten (leider) unrecht behalten. Wirtschaftlicher Niedergang, politische Bedeutungslosigkeit, unaufhaltsame Entvölkerung, dies sind die Symptome einer langsam schleichenden Krankheit, deren Diagnose in der Zwischenzeit hundertfach bestätigt worden ist und von niemandem mehr angezweifelt wird. Sollten wir auch jetzt nicht, nach Jahren der Studien, Rundtischgesprächen, Presseartikeln, Kommissionen, parlamentarischen Anfragen, so notwendig sie auch gewesen sein mögen, endlich zur Tat schreiten? Tatbestand und Rettunsgvorschläge liegen auf dem Tisch, längst katalogisiert und gedruckt, die Weichen sind gestellt, wie lange müssen wir wohl noch auf das grüne Licht warten? Höflichst, aber bestimmt erlauben wir uns an dieser Stelle die politischen Parteien an ihr Wahlversprechen (siehe Sondernummer des « Cliärrwer Kanton » vom Frühjahr 1984) zu erinnern, der Nordspitze prioritäre und schnelle Hilfe zukommen zu lassen. Vergessene Worte?

Unser Vertrauen in die Regierenden wurde in den letzten Monaten auf eine harte Probe gestellt. Einmal mehr wurden wir Öslinger in die Rolle der staunenden Zuschauer gedrängt, als die Nachricht eintraf, das Clerfer Friedensgericht sei jetzt vollends geschlossen, als die Subsidien für den Schülertransport gestrichen wurden (hiervon sind hauptsächlich die Nordgemeinden betroffen). Auch die Entscheidung der Brüsseler Kommission, dem Clerfer Kanton durch das Wirtschaftsrahmengesetz bei Investitionen staatlicherseits einen Beihilfesatz von 17,5% zukommen zu lassen (Kanton Esch 25%, Kantone Luxemburg, Grevenmacher und Wiltz ebenfalls 17,5%, alle anderen 15%) ist eher als ein Rückschlag zu bezeichnen und wird sich wohl schwer als spezifische Hilfsmaßnahme verkaufen lassen. All dieses war Wasser auf die Mühlen jener, welche uns den Mut auf das Weitermachen nehmen wollen, Öl ins Feuer jener, welche das Netz der Resignation bereits umsponnen hat.

Mit dem Abzug staatlicher Dienststellen, so René Maertz, ist die Landflucht vorexerziert. Dabei hatten zahlreiche schriftliche und mündliche Versprechen der Regierenden unsere Befürchtungen in diesem Punkt etwas zu beruhigen verstanden. Es fällt uns schwer, in dieser Angelegenheit, nicht von Wortbruch zu reden.

Seit über zwanzig Jahren hat sich kein arbeitsschaffender Betrieb mehr im Clerfer Kanton niedergelassen. Wir wissen sehr wohl, daß in unserer freien Marktwirtschaft der Staat die Investitionen nicht dekretieren kann, er kann aber Akzente setzen, Anreize schaffen. Nachweislich ist der Clerfer Kanton einsamer Spitzenreiter, und dies nicht erst seit gestern, in der Hitparade der Minusrekorde, und wir glauben, daß diese Situation unbedingt prioritäre und spezifische Maßnahmen erfordert, welche von einem Gesamtkonzept getragen sein sollten. Freilich ist das Lösen aller Probleme in erster Linie eine Frage des Willens.

Wir werden uns auch weiterhin bemühen, faire Diskussionspartner zu bleiben. Unbequem zu sein war nie unsere Absicht, genauso wie wir alle Anschuldigungen zurückweisen, den Clerfer Kanton In die Isolation treiben zu wollen. Nicht wir suchen die Isolation, im Gegenteil, sie ist das Resultat jahrzehntelanger Vernachlässigung seitens der politischen Machthaber. Kann ein Land, dazu ein noch so kleines wie Luxemburg, es sich erlauben ein Achtel seines Territoriums zum bloßen Achtel verkommen zu lassen? Wenn ganze Landstriche dem Aussterben nahe sind, wenn aus Dörfern Ruinen werden, kann man das natürlich auch Gesundschrumpfen nennen. In einem Zeitpunkt, wo von Abschaffen der sogenannten Solidaritätssteuer die Rede ist, möchten wir in aller Bescheidenheit, und ohne im geringsten an solch gigantische Mittel zu denken, fragen, wie es um die Solidarität mit der Nordspitze steht?

Mit größter Zufriedenheit begrüßen wir das nach Überspringen sämtlicher administrativer Hürden endlich zustandegekommene « Syndicat Intercommunal pour la Promotion du Canton de Clervaux ». Es ist dies für unsere Gemeinden die einmalige Chance, trotz dem Wenig an finanziellen Mitteln, einen festeren Gesprächspartner zu bilden und in einem Geist von Entschlossenheit und Solidarität neue Impulse und Ideen für das Überleben unseres Kantons zu entwickeln.

In der Zwischenzeit dürften die Konklusionen der « Commission mixte » auf dem Tisch des Regierungschefs liegen, wir werden später ausführlich darauf eingehen. Die Arbeit in diesem Gremium konnte man durchwegs als positiv bezeichnen, doch letztendlich dürfte der Erfolg auch dieses Mal nur an den konkreten Resultaten gemessen werden. Die Zeit der Rückzugsgefechtsstrategie sollte der Vergangenheit angehören. Wir erwarten uns sehr viel von den Konklusionen der « Commission mixte » und möchten uns bei allen Teilnehmern für ihre positive Einstellung bedanken. Unser Dank wendet sich auch an die Regierung. Allen Zweiflern und Nörglern zum Trotz glauben wir, daß die ins Leben gerufene « Commission mixte » mehr darstellt als nur eine symbolische Geste des guten Willens, mehr als ein Alibi zum Weiterharren an den Ufern des Nichtstuns. Die Frucht ihrer Arbeit soll kein Flickwerk werden, sondern eine entschlossene und wahrnehmbare Hilfsaktion für die Nordspitze und ihre Bewohner.

Das Staatsschiff, schrieb einmal René Maertz, ist ein langsames Schiff. Es agiert nicht, es reagiert. Nun hat das Staatsschiff sich in Bewegung gesetzt und die Häfen des langen, zu langen Wartens, verlassen. Mögen die Inseln der Hoffnung, die es aussetzen wird, sich nicht als Ödland entpuppen, dies möge Ende 1985 unser aller Wunsch sein!