Jean Jaans

Bericht zu unserer Generalversammlung vom 28. April 1995 in Clerf

Unsere traditionelle Generalversammlung fand am vergangenen 28. April im Clerfer Kulturzentrum statt. Nach einer Ansprache von Präsident Léon Braconnier ergaben Teilwahlen zum Vorstand auch einige neue Mitglieder; der Jahresbeitrag zu unserer Vereinigung wurde für 1996 bei 550 Franken belassen; im Anschluß an die Versammlung hielt Vorstandsmitglied Jean Jaans einen Vortrag zum Thema « d’Rekonstruktioun nom Krich ».

In seiner Ansprache entschuldigte Präsident Braconnier einleitend eine Reihe von Politikern (Wahlen sind im laufenden Jahr nicht vorgesehen, meint hierzu der Berichterstatter…) und überbrachte eine Grußbotschaft von Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges, welche die Arbeit unserer kulturellen Vereinigung zu schätzen weiß und gewillt ist, uns auch in Zukunft Unterstützung zu gewähren. Sodann entwickelte der Redner tiefschürfende Gedanken zur Rolle der Kultur im allgemeinen und an der Nordspitze unseres Landes im besonderen.

Intensiv und bewußt leben

Léon Braconnier hatte im Vorjahr bereits festgestellt, wie wichtig Kultur in einer Zeit von Untoleranz, religiösem und politischem Fanatismus und Nationalismus sei. Diese einfache Feststellung wird durch die Entwicklung in verschiedenen Weltteilen leider bestätigt, wobei die nützliche und beglückende Rolle der Kultur vielfach in den Hintergrund verdrängt wird. Kultur vermittelt Verständnis, Toleranz, Frieden und menschliche Würde; sie trägt in hohem Maße dazu bei, daß Menschen intensiver und bewußter leben, und zwar durch Verständnis für andere Menschen und Kulturen, durch Duldung, anderer Meinungen und Sitten, aber auch durch kritisches Hinterfragen von Vorgängen und Entwicklungen. Aus der Vergangenheit sind Lehren zu ziehen, uns ist die Aufgabe gestellt, uns mit der Geschichte auseinanderzusetzen, Inhalt und Botschaft von Musik, Literatur und Malerei zu verstehen. Kultur ist kein überflüssiger Luxus, sie bietet die Möglichkeit, schöpferisch zu denken und zu handeln und eine bessere Welt zu schaffen. Kultur ist in vielen Bereichen unbedingt erfordert und präsent, so beispielsweise in Politik, Kunst, Sport, Beruf, ja selbst im täglichen Zusammenleben.

In der großen Kulturszene

unseres Landes versucht « De Cliärrwer Kanton » seinen bescheidenen Beitrag zu leisten, wobei unsere Zeitschrift (im siebzehnten Jahr!) eine Hauptaktivität darstellt. Unsere nicht immer richtig als « Bulletin » bezeichnete Zeitschrift stellt ein wirksames Bindeglied zwischen den Mitgliedern dar; sie ist wegen des fundierten Charakters der veröffentlichten Beiträge allgemein anerkannt und wurde von der Regierung als « Revue culturelle de haut niveau intellectuel » eingestuft. Es gibt im Ländchen ganz sicher wenige Gegenden, über die derart systematische Nachforschungen angestellt und veröffentlicht wurden, über die derart viel nachgedacht und geschrieben wurde wie das für den Kanton Clerf der Fall ist. Ein großer Dank gilt deshalb den Mitarbeitern, den treuen Autoren und Photographen, aber ganz sicher auch den vierzehnhundert Mitgliedern im ganzen Lande, die uns immer wieder ihr Vertrauen schenken. Besonderen Dank verdienen aber auch die Freunde Henri Keup und Lex Jacoby in der Redaktionsstube – bei ihnen ist unsere Zeitschrift in treuen und kompetenten Händen, und das gibt den Verantwortlichen von « De Cliärrwer Kanton » ein beruhigendes Gefühl, das auf die Mitglieder übergeht und sie immer wieder das Erscheinen unserer Zeitschrift mit einiger Ungeduld erwarten läßt.

Unsere kulturelle Tätigkeit

beschränkt sich jedoch nicht auf die Zeitschrift als Herzstück. In der Vergangenheit wurden immer wieder kulturell bedeutsame Veranstaltungen angeboten; der Redner erinnert hier an Bilderausstellungen, Konzerte und andere kulturelle Initiativen. Das « Récital Dinah Bryant/Daniel Blumenthal » am 18. Februar 1995 in Clerf wurde von der Presse als einer der Höhepunkte im Kulturjahr ’95 bewertet, gleichzeitig kündigte der Redner künstlerisch hochstehende Veranstaltungen in Hosingen und Clerf an.

Angesichts des großen Angebotes an möglichen Veranstaltungen stellt sich allmählich immer dringlicher die Frage nach einer ausreichenden räumlichen Infrastruktur: Konzerte können im allgemeinen nur in Kirchen veranstaltet werden, wobei unter Umständen mit Ablehnung oder Bedenken zu rechnen ist; möglicherweise ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Mut zu weiteren Versuchen verlorengeht. Hier stellt sich wie bereits erwähnt die Frage nach einer ausreichenden Spezialinfrastruktur: ein Saal, in dem man Theater spielen kann, Generalversammlungen abhalten darf. Filme vorführt und Konzerte veranstaltet, ist im Endergebnis keineswegs optimal: « Gutt fir villes bedäit da gutt fir näischt » schlußfolgerte Léon Braconnier und niemand im Saal widersprach…

Abschließend zu diesem Teil seiner Ausführungen erwähnte der Präsident noch die Bemühungen, in Ulflingen eventuell wieder Filmvorführungen zu ermöglichen, und sicherte die volle Unterstützung unserer Vereinigung zu. An dem von der Europäischen Union subventionierten Programm « LEADER II » hat unsere Vereinigung Koordinationsaufgaben im kulturellen Bereich übernommen. Die verfügbaren Finanzmittel sind eher beschränkt; vorgeschlagene Projekte sollen innovativ sein und können im Zeitraum von fünf Jahren mit einer Million Franken gefördert werden.

Seit Beginn ihrer Tätigkeit verfolgt unsere Vereinigung aber auch

wirtschaftliche und soziale Zielsetzungen

zur Besserung von Umfeld und Lebensqualität an der Nordspitze. Seit 1979 haben die Vereinsverantwortlichen diesbezügliche Überlegungen angestellt und Initiativen ergriffen. Was wäre wohl ohne die hartnäckige Arbeit unserer Vereinigung zugunsten des Kanton Clerf unternommen worden? Gespräche mit Premierminister Jacques Santer führten zu konkreten Ergebnissen, auch mit dem neuen Premierminister Jean-Claude Juncker wird der Vorstand Kontakt aufnehmen.

Die « Nordbewohner » wünschen keine Sonderbehandlung, sondern lediglich gleichwertige im ‘Vergleich zu anderen Regionen. Und in diesen Zusammenhang gebührt dem Bau der Nordstraße ohne Zweifel Priorität. Die Qualität der Straßenverbindung zwischen Norden und Zentrum bzw. Süden ist für die Zukunft von entscheidender Bedeutung und Art und Weise, wie sich an der Nordspitze heute Waren- und Personenverkehr abspielen, können sicher nicht als Norm für das nächste Jahrhundert gelten. Eine bequeme und sichere Straße zur Hauptstadt mit ihren schulischen, kulturellen, sportlichen, wirtschaftlichen, administrativen und medizinischen Infrastrukturen müßte in einem modernen Staat als Selbstverständlichkeit gelten. Unsere Vereinigung wird nicht müde werden, sich für den Bau der « Nordstrooss » einzusetzen und wir werden alle Bemühungen in dieser Richtung unterstützen.

Ein großes Mißverständnis

ist hier auszuräumen: manche Besserwisser meinen immer noch, « De Cliärrwer Kanton » sei gegen die öffentlichen Verkehrsmittel. Das ist jammerschade und falsch. Ganz gleich wie perfekt oder unzulänglich öffentliche Verkehrsmittel zum Teil sind, so sollen sie in einer modernen Welt nicht fehlen und sie spielen in Zukunft ganz sicher eine bedeutsame Rolle, hauptsächlich in den Städten und Ballungszentren. Niemand im Vorstand würde auch nur im Traum eine Familie daran hindern, mit dem Zug von Clerf nach Wiltz zu fahren. Wir haben absolut nichts dagegen, wenn ein junger Mensch sich per Bus zum nationalen Tenniszentrum in Esch/Alzette begibt und diese Feststellung erfolgt unbedingt objektiv. Aber jedermann soll wie in der Vergangenheit das Recht behalten, die für ihn bestgeeignete Transportart zu wählen. Deshalb sind die Angriffe und Anfeindungen unverständlich, welchen derjenige ausgesetzt ist, der etwas unbedingt Normales herbeiwünscht, nämlich eine rasche und sichere Straßenverbindung zur Hauptstadt. Ist es denn so ungewöhnlich, wenn ein Öslinger in zumutbarem Zeitraum per Auto zum Findel oder nach Differdingen fahren möchte? Weshalb müssen denn ausgerechnet die Nordbewohner das hauptstädtische Theater nach der Pause verlassen, weil der letzte Zug die Hauptstadt in Richtung Norden um 22,10 Uhr verläßt? « Vielleicht genügt eine halbe Oper für die Öslinger, da sie von Kultur und Kunst ja ohnehin nichts verstehen? » fragte der Redner ironisch und unterstrich noch einmal, die Kampagne, die von verschiedenen, aber immer gleichen Kreisen gegen die Nordstraße geführt wird, sei

übertrieben und nahezu hysterisch

und die Behauptung, das Überleben des Grünewalds werde durch diese Maßnahmen in Frage gestellt, sei nicht gerade ein Zeichen intellektueller Redlichkeit. Und wenn nur ein deutscher Experte in einer Studie (deren Ergebnis erstaunt hätte, wenn sie nicht der Meinung des Honorarzahlers entsprochen hätte!) verkündet, in Deutschland würde eine derartige Straße nie gebaut, dann ist diese Aussage glaubwürdig, weil in Deutschland bekanntlich keine Straße und schon gar keine Autobahn durch Wälder führt … Glaubwürdig ist die Expertenmeinung aber auch, weil die Straße im Nachbarland längst gebaut wäre…

Präsident Braconnier schloß diesen Teil seiner Ausführungen ab mit dem Dank an die Abgeordneten und die Regierung für ihre bisher bewiesene Entschlossenheit; der zuständige Minister Robert Goebbels verdient besondere Anerkennung für seine deutliche und energische Haltung. Die Straße ist jedoch noch längst nicht verwirklicht und in diesem Zusammenhang ist die Frage zu stellen, wie andere Macht- und Meinungsträger sich in dieser für den Nordkanton lebenswichtige Frage verhalten. Wie denkt man bei der « Aktioun Nordstrooss »? Was sagen die Politiker? Und die Bevölkerung? Und das Gemeindesyndikat zur Förderung des Kantons Clerf? Eine Tatsache bleibt allerdings unleugbar:

Ohne Nordstraße bleibt das Nordösling auf ewige Zeiten ein Randgebiet mit allen negativen Folgen. Aber mit der Verwirklichung der Straße wächst Luxemburg endlich zusammen und aus einer Expedition in den Norden wird eine einfache Fahrt.

Die anderen Straßen im Kanton

stellen übrigens auch Probleme. Der Redner verweist u.a. auf das Beispiel der Straße Mamach-Munshausen und bewundert die Gedult der Bevölkerung, wenn eine Hauptzufahrt nach Clerf während 17 Monaten infolge Straßenverbesserung durch Ampelbetrieb behindert wird und in anderthalb Jahren laut vorsichtigen Schätzungen über zwei Millionen Autos an einer Baustelle anhalten mußten. Der vierspurige Ausbau der Nationalstraße von Ettelbrück bis zur Wemperhardt wäre ebenfalls kein Luxus und entspräche lediglich modernen Normen für Verkehrssicherheit.

Auch die rezente, aber diskrete Einpflanzung von sogenannten « nationalen Zentren » nach exzentrischen Orten bereitet dem Vorsitzenden große Sorgen; er erwähnt hier das geplante Radiotherapie-Zentrum in Esch/Alzette, das « Centre national de l’audiovisuel » in Düdelingen, das Zentrum für berufliche Weiterbildung in der Minettemetropole, das beabsichtigte Nationalzentrum für Betreuung und Wiedereingliederung verunfallter Mitbürger -dies alles selbstverständlich ohne Autobahnzugang für die Nordbewohner. Hier ist es nicht getan mit der Meinung einer Süddeputierten, man könne mit dem Auto von irgendeinem Punkt im Land ohne Schwierigkeit in 45 Minuten nach Esch/Alzette gelangen — bei ihr möchte der Präsident jedenfalls nicht im Wagen mitfahren, auch nicht mit Airbag. Und wie wären wohl die Reaktionen, wenn ein beliebiges « Centre national » nach Clerf käme? Logischerweise gehören.

Nationalzenteren nicht in ein Randgebiet,

aber leider scheint die Solidarität in unserem Land als Einbahn verstanden zu werden.

Eine endlose Geschichte ist auch zur immer wieder versprochenen Neuschaffung von Arbeitsplätzen an der Nordspitze zu erzählen. Immer noch verlassen junge Menschen den Kanton, symptomatisch ist auch die Tatsache, daß die meisten Bürgermeister im Kanton ihrer Berufsarbeit außerhalb ihrer Region nachgehen (müssen). Die Beschäftigungslage im Kanton Clerf ist im Grunde genommen der dramatischste Aspekt der Lage an der Nordspitze. Im EDV-Zeitalter müßte es bei einigem guten Willen möglich sein im Norden Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor zu schaffen.

Mit einem Rückblick auf die vielfältigen kulturellen Veranstaltungen unserer Vereinigung im Laufe des Berichtsjahres und mit herzlichem Dank an jene Kreise, die finanzielle und moralische Unterstützung gewähren, schloß der Redner seine vielbeachtete Ansprache.

Der von Schatzmeister Aly Bertemes vorgetragene Kassenbericht ergab eine gesunde Finanzlage, so daß der Beitrag für 1996 bei 550 Franken belassen wurde. Die Kassenrevisoren Francis Meyer und Paul Zeimes empfahlen sodann der Versammlung, für die vorzügliche Kassenführung Entlastung zu erteilen; der Vorschlag fand die ungeteilte Zustimmung der Anwesenden. In Zukunft wird der zurückgetretene Revisor Francis Meyer durch Adrien Wouters ersetzt.

A propos Finanzen

ist die Tatsache erfreulich, daß von unseren 1400 Mitgliedern rund 50% freiwillig 1000 F als Jahresbeitrag überweisen. Selbstverständlich sind wir auch dankbar für die finanzielle Unterstützung durch die Gemeindeverwaltungen des Kantons und durch das Kulturministerium.

Bei den turnusgemäß anstehenden Teilwahlen zum Vorstand wurden Léon Braconnier, Francis Breyer, Armand Dichter, Aloyse Kohnen, Victor Kratzenberg, Marcel Leners, René Maertz, Aloyse Nosbusch und Raymond Wagner in ihren Ämtern bestätigt bzw. als neue Mitglieder aufgenommen. Die vollständige Zusammensetzung des Vorstandes findet der Leser im Impressum dieser Nummer. Die freie Diskussion wurde u.a. auch durch eine Intervention des Europa-Abgeordneten Charles Goerens zum Problem Nordstraße und zur politischen Landesvertretung gekennzeichnet.

Im Anschluß an die Generalversammlung hielt Vorstandsmitglied Jean Jaans wie eingangs erwähnt einen Vortrag zum aktuellen Thema « d’Rekonstruktioun nom Krich ». Auf die Ergebnisse seiner Nachforschungen geht der Autor an anderer Stelle in diesem Heft und in weiteren Ausgaben unserer Zeitschrift näher ein.