Léon Braconnier

20 Jahre Cliärrwer Kanton

Vieles kann sich in 20 Jahren ändern. Besonders die jüngsten Jahrzehnte haben es in sich. Da ist einem manchmal, als ob unsere Erde um einiges schneller durch das All wirbelt. Aber das mag im Angesicht des 3. Jahrtausends auch nicht verwundern. Wir zappen uns handy- und camcorderbewaffnet, computerunterstützt und halbgeklont, multimedial gedopt, live und in 16/9, in das mehr oder weniger faszinierende Jahr 2000. Unsere Welt ist zum globalen Dorf geworden, na ja, fast zum globalen Spektakel, wir chatten um die Wette, und können portofrei im total zugestrickten Internetz gar kulturell Exotisches wie Bücher erstehen.

Wenn Intelligenz Licht wäre, bemängeln dennoch einige, ähnele das Ende unseres Jahrhunderts nicht gerade einer Light-Show. Doch das soll hier nicht unser Thema sein.

Seit 20 Jahren segelt De Cliärrwer Kanton durch das Meer der Zeit. Streicht die Segel nicht. Und segelt unter dck.lu gar im oben erwähnten Internet.

Vieles, wenn auch nicht alles, kann sich in 2 Jahrzehnten ändern. Das Leben in den Ballungsräumen wie das Leben auf dem Land. Letzteres hat unsere Vereinigung interessiert. Zu relevanten gesellschaftspolitischen Themen haben wir unsere manchmal unwillkommene Meinung gesagt. Zu den Infrastrukturen, den Arbeitsplätzen, den Aussichten für die Jugend, zu der Nordstrasse. So manches haben wir bedauert: das zweierlei Maß, das Fehlen eines Gesamtplanes, die bedrohliche Alterspyramide, der Mangel an Infrastrukturen, die Eingleisigkeit der CFL-Nordstrecke, die Verteilung der nationalen Zentren, die Sicherheitspolitik. Kann sein, daß da die eine oder andere Schwiele entstand. Wir bedauern es nicht. Insbesonders nicht, wenn versucht wurde (und wird!), unsere legitime Forderungen als Nörglergeschwätz abzutun.Es geht nicht darum, kindergartenreife Beschäftigungsprogramme für das Ösling auszutüfteln, sondern schlicht und einfach, in unserem Land für Chancengleichheit zu sorgen.

Wir verstehen uns: mit « Oma bäckt Wildweizenkuchen bei Kerzenlicht »-Programmen ist es nicht getan.

Aber wir sind auch angenehmer aufgefallen. Mit Erfolg hat De Cliärrwer Kanton das kulturelle Leben an der Nordspitze bereichern können. Konzerte, Ausstellungen, Literaturabende, Konferenzen, Seminare. So ist uns in den letzten Jahren mit den « Journées du Chant Grégorien » ein ganz großer Wurf gelungen. Auch die rezenten Sondernummern unserer Zeitschrift ernteten Riesenlob. Und wer erinnert sich nicht an die eindrucksvolle Ausstellung « De Kanton Cliärref, e schéint Stéck Lëtzebuerg », die 10.000 Besucher angezogen hat?

All die Jahre schon erscheint unsere Zeitschrift. Sprachrohr, Geschichtsbuch, Fotoband: de Cliärrwer Kanton hat viele Gesichter. Auch jenes, schöne, einer langen Liebeserklärung. Wer hat die Seiten gezählt, die vielen tausend Zeilen die dem Leben des Clerfer Kantons galten, dem Leben von gestern, dem Leben von heute? Wer hat die vielen Zweifel und Mahnungen gesammelt, die davor warnten, das Leben des Öslings von morgen heute aufs Spiel zu setzen? Wer weiß um die Rolle, die unsere Extranummer über die Nordstrasse (« Ee Land, zwou Welten? ») im Entscheidungsprozess gespielt hat?

Was hat sich seit 1979, in den 20 Jahren «Cliärrwer Kanton» geändert? Was ist im Sozialen, Kulturellen und Wirtschaftlichen besser geworden, was nicht?

Hat sich der Kanton Clerf vom Leadership in der «Hitparade der Minusrekorde» (René Maertz, 1983) befreien können? Diese Frage kann man ohne ausgiebiges Zahlenmaterial vermutlich nicht ausloten. Augenscheinlich sind allerdings:

  • die Zunahme der Bevölkerung
  • die Verbesserung verschiedener Infrastrukturen, besonders im Bereich der Industriezonen
  • der wichtige Bau der Nordstrasse
  • die Bestrebungen in der Landwirtschaft, sowie im Tourismus, neue Wege zu ergründen

Leider gibt es auch Schattenseiten:

  • eltsame Verteilung der nationalen Zentren in unserem Land
  • gravierende Mängel im sensiblen Bereich der Sicherheitspolitik
  • unbefriedigende Situation auf dem Arbeitsmarkt
  • latenter Rückgang in Landwirtschaft und Tourismus

Daß das Ösling über keinerlei Lobby verfügt, mußten schon viele erfahren, die sich für die Belange des Kantons einsetzen wollten. So stammen gerade mal 9 von 60 Abgeordneten aus einem Territorium, das immerhin 44 % (!) unseres Landes ausmacht. Es leuchtet ein, daß diese 9 Abgeordnete, zudem noch Mitglieder 5 verschiedener Parteien, besonders gefordert sind.

Spendierhosen für das Ösling hat unser Staat selten getragen. Denn Einfluß in der Politik ist zahlen- und massengebunden. Masse wird man ab einer bestimmten Größe: die kritische Masse. Letztere kann nicht mehr ignoriert werden. Sie beeindruckt die Politiker, beeinflußt politische Entscheidungen. Diese Masse ist z.B. Einwohnerzahl, Gewerkschaft, Lobby, Konfession usw. Das Ösling generell, und speziell die Nordspitze, kommt kaum an die Kriterien einer « kritischen Masse » heran. Schnell, fast automatisch, wird man dann zur « Quantité négligeable », zu oft wird man dann als « unrentabel » deklariert, teilweise allerdings hinter vorgehaltener Hand. Wegschauen, wenn das Rationalisierungsmesser dann das eine und andere Mal sein Opfer nicht verfehlt.

Bestes und durchaus pikantes Beispiel: die Sicherheitspolitik. Ob die Verantwortlichen, vor der geplanten Fusion von Gendarmerie und Polizei, wissen, in welchem Maße die aktuelle Situation schon frustrierend genug ist? Inwiefern ist die konkrete Lage an der Nordspitze bekannt? Wie groß ist die Bereitschaft, die Sorgen der Bevölkerung und der lokalen Sicherheitskräfte ernst zu nehmen? Die rezenten Ereignisse in Wintger, Wemperhardt und Ulflingen beweisen die scheinbare Hilflosigkeit der Staatsmacht gegenüber der Kriminalität, die im Nordösling natürlich besonders leichtes Spiel hat. Daß es bislang keine Tote und Verletzte gegeben hat, ist reine Glückssache. Wer erinnert sich nicht an die Explosion letztes Jahr in Wemperhardt (Sparkassenfiliale)? Ob Superschutzengel auch einmal Urlaub machen?

Es geht darum, die Dinge beim Namen zu nennen. Politik kann doch nicht sein, Realität mit Wunschdenken zu verwechseln. Politik kann doch nicht sein, seitenweise Absichtserklärungen zu verabschieden. Politik kann doch nicht sein, die Realität schönzureden. Das wissen auch die gewählten Vertreter. Mögen sie, vielleicht noch mehr als bisher, einsehen, daß die Situation an der Nordspitze eine ganz spezifische ist. Dies haben die Gründungsväter des « Cliärrwer Kanton » immer wieder betont. Und daß diese spezifische Situation eigentlich einen ganz besonderen Einsatz aller Akteure verlangt. Vorbildlich in diesem Zusammenhang ist die Arbeit des interkommunalen Syndikates SICLER, das wesentlichen Anteil an der rezenten, positiven Seite der Entwicklung trägt. Aus einem kommunalen Nebeneinander ist ein kantonales Miteinander gewachsen. Wahrlich eine schöne Pflanze. Da wünschen wir gesundes Gedeihen und langes Leben.

In einem letzten Schreiben an seinen Nachfolger schrieb DCK-Gründungspräsident René Maertz wenige Tage vor seinem Tod:

« Ne décevons pas les espoirs mis dans notre association dès le début. Que le comité entier s’y mette. »

Vielleicht sind diese Worte ein guter Anfang und Ansporn für die Jahre, die vor dem « Cliärrwer Kanton » liegen. Denn das Spektrum der möglichen Szenarien ist immer noch weit gespannt.

In den 20 Jahren « Cliärrwer Kanton » hat sich vieles verändert. Für alles, das sich zum Guten gewendet hat, wollen wir dankbar sein. Und wenn unser Verein mit lauter Stimme angeklagt hat, soll er sich auch in diesem Moment mit lauter Stimme bedanken. Natürlich bei unseren zahlreichen Abonnenten, die fast wie Familie und Freunde sind. So manche haben sich für die Belange der Nordspitze eingesetzt, manchmal unauffällig und diskret, immer mit Überzeugung. Anerkennung unseren vielen Sympathisanten in Politik und Verwaltung, in Vereinen und Gemeinden. Die Gemeinden des Kantons sind unser Rückhalt par excellence: ohne die moralische und finanzielle Unterstützung wäre ein Überleben fraglich. Aber auch dem Kulturministerium möchten wir unsere große Dankbarkeit versichern.

Mit Emotion und Dank gleichermaßen soll in diesen Tagen an die Gründungsväter gedacht werden. Wohl kein anderer als René Maertz hat den « Cliärrwer Kanton » in solchem Maße geprägt. Unter seiner klugen Führung wurde bemerkenswerte Aufbauarbeit geleistet. Auch Tony Bourg soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Seine geistige Autorität schenkte dem Cliärrwer Kanton die notwendige Glaubwürdigkeit.

Dankbar sind wir, immer noch auf die Mitarbeit von Lex Jacoby bauen zu können. Lex Jacoby ist der Vater unserer Zeitschrift. Während langen, langen Jahren hat er mit viel Aufopferung dafür gesorgt, daß die Seiten des Cliärrwer Kanton immer von höchster Güte waren. Und er hat dafür gesorgt, daß die Zeitschrift auch jetzt in den guten Händen eines Heng Keup liegt.

Dank an die vielen treuen Autoren, Photographen, Helfer, Vorstandsmitglieder usw.: sie gaben dem « Cliärrwer Kanton » die nötige Ausstrahlung und Power. Hommage an alle.

In den Gründungsjahren des Vereins, insbesonders zu Beginn der 80er Jahre war die Situation an der Nordspitze besonders dramatisch. Die Stimmung, parallel zum Bevölkerungsrückgang, lag am Boden. Die Einwohnerzahl war damals auf das Niveau von 1821 (!) geschrumpft. Daß sich die Premierminister Pierre Werner und Jacques Santer nicht zu schade waren, uns mehrere Male zu empfangen, zeugt von deren Respekt unserer Vereinigung und dem Ösling gegenüber. Es waren fruchtbare und überaus nützliche Dialoge, Bausteine für die Zukunft.

Der Beschluß der aktuellen Regierung, die Nordstrasse zu bauen, beschert dem Ösling und dem gesamten Land neue Perspektiven. Ein völlig neues Luxemburg ist im Begriff zu entstehen. Ein Land wächst endlich zusammen.

Wie schon erwähnt, stellten wir im Jahre 1991 den Kanton Clerf ins Schaufenster. De Kanton Cliärref, e schéint Stéck Lëtzebuerg. Eine imposante Schau. Viel Schönes wurde präsentiert, viel Kostbares, Kurioses und Rares. Aber eines sorgte für besonderes Aufsehen: die tausend Kinderphotos, die tausend Kinder des Kantons Clerf. Mit ihren großen Kinderaugen schauten sie in die Kamera. Die tausend Kinder, die damals, im Schuljahr 1990/91, die Spiel- und Primärschulen besuchten. Jedes Einzelne hat unser Kollege Francis Breyer damals photographiert. Und wir fragten: Wieviele dieser Kinder werden in 5, in 10, in 15 Jahren an der Nordspitze, im Ösling bleiben, bleiben können?

Wer weiß um die Antwort? Vielleicht kommt sie froh und hoffnungsvoll mit dem Wind, der in all den Jahrtausenden den Kreis der Erde umarmt, mal zärtlich sanft, mal leidenschaftlich vehement. Vielleicht steht sie aber auch in den Sternen, die Nacht für Nacht am Firmament stehen, und manchmal, wenn der Himmel über dem Ösling klar ist, wie ein Stück funkelnde Ewigkeit scheinen.

Merci