Léon Braconnier

Der langsame Wandel

Im Nebel meiner Kindheitserinnerungen erkenne ich noch deutlich die Kriegspuren an manchen Hausgiebeln. Sie sind lange übertüncht. Übertüncht wie so viele Erinnerungen an das Ösling von gestern.

Ade ihr Souvenirs vom kalten Winter, vom blühenden Frühling, vom trockenen Sommer, vom bunten Herbst.

Sind nicht längst die Winter lau, die Frühlinge feucht, die Sommer verregnet, die Herbste stürmisch? Der Stausee in Esch an der Sauer, sagen die Leute, hat das Wetter gekippt. Andere schieben der geschädigten Umwelt die Schuld zu, dass sogar Hundertjährige Kalender grob an der Wahrheit vorbei schießen.

Derweil aus so manchem Feldweg ein geteerter Weg wurde, blieben etliche Strassen im Ösling etwas holprig. Zugegeben. Aber holprige Strassen sind auch anderswo im Land keine Seltenheit. Die alte Trasse von Diekirch/Ettelbruck bis Wemperhardt hat man vor Jahrzehnten begradigt und etwas schneller gemacht. Immer mehr wird sie nun zugebaut, wird im sich ausdehnenden Grenzgebiet mit immer mehr neongeschmückten Tankstellen bestückt. Tiefgefrorene Pizzas, von pikant bis zart, Kaffees diverser Länder, Zeitschriften verschiedener Couleur und Motoröle jeder Viskosität kann man dort bis spät in den Abend kaufen. Da weht fast schon ein Hauch von Highway über die Öslinger Koppen. Ein Hauch von Montana. Aber die meisten Öslinger Strassen, die unsere Städtchen und Dörfer verbinden, sind längst Teil der Landschaft, die sie teilen. Sie schlängeln sich wie die Wasserläufe, oder stürmen geradewegs gegen den Himmel.

Manchmal enden sie einfach abrupt. Schuld ist dann eine Baustelle, eine manchmal heimtückisch beschilderte Deviation zwingt dann zu einem Umweg.

Diese Zwangsumwege haben aber keinesfalls nur Schattenseiten. Nein, sie führen ab und zu durch Neuland. Vielleicht durch Dörfer, deren neueste Edition einem gar nicht geläufig war. Man unterhielt eine vage Erinnerung, kannte die Silhouette der Kirche, wusste um den einen oder anderen Bauernhof. Klar, die alte Schule. Aber nun staunt man vor den zahlreichen Neubauten, einige gar mit Türmchen, Teich und Gartenzwerg. Man zählt an den Fassaden die weißen und grauen Ohren, die den Himmel ablauschen, ja man entdeckt im Herzen des Dorfes vielleicht eine Résidence oder ein Centre Culturel, liebevoll angelegt, mit Geranien und Schrift in schicken Inox-Buchstaben auf Sichtbeton.

Viel später erfährt man den Grund der Deviation. Kann sein, dass ein neuer Kreisverkehr gebaut wurde. Denn Kreisverkehre sind im Trend. Sie entschärfen Kreuzungen, bremsen die Raser. Auch letztere sind leider voll im Trend. Fährst du mit 55 Stundenkilometer durch ein Ardennerdörfchen, kann es vorkommen, dass dir ein Raser an der hinteren Stossstange klebt. Dann weißt du, du bist zu langsam. Klar, dass du dir Ungeduld einhandelst. Du riskierst gar einigen Zorn. Und du ahnst, auf der nächsten Geraden wird der Raser mit dem tiefgelegten, spoilerbewaffneten Gefährt, bumm, bumm, bumm, an dir vorbeidüsen, bis wieder ganz dicht an das nächste Opfer heran.

Auch die Zahl der Motorräder steigt von Jahr zu Jahr. Zu Hunderten fahren die Zweiräder vornehmlich an schönen Wochenenden übers Land, in Rudeln, manchmal leise und vornehm, meist aber wie krachende Götter des Donners. So ein Herr über den Donner, hatte man mir gesagt, entscheidet er sich denn nachts für eine Fahrt quer durch eine Stadt wie Brüssel, kann bis zu 100.000 Menschen aus dem Schlaf reißen. Aber in den dünn besiedelten Ardennen schluckt der Wind den meisten Krach, trocknet auch mal Tränen, denn das kurvenreiche Ösling ist ein mitunter todbringendes Eldorado für die modernen Helden der Strasse.

Die Einpflanzung einiger Industriebetriebe hat die Zahl der Laster erheblich steigen lassen. Beeindruckende Brummis ziehen nun über die Lande, stark und mächtig, nur die modernen Supertraktoren können ihnen noch das Wasser reichen. So schnell und wendig all diese Giganten der Strasse sein mögen, auf der nationalen Strasse mit der Nummer 7 kommen die Asphaltdinos nicht vom Fleck, türmen sich zum unüberwindlichen Hindernis. Und das nicht nur für die oben erwähnten Raser.

Längst piepsen und trällern die Handys auch auf dem Lande, das Netz der Antennen, stumme, metallene Zeugnisse der Zivilisation, zieht sich immer enger. Hohe Windmühlen sprießen aus grünen Wiesen in alle Himmel des Öslings, riesige Spargeln mit Propeller.

Die Serviceflotte von « Hëllef-Doheem » wächst. Bei jeder Fahrt begegnet man einem « Hëllef-Doheem-Auto », am Steuer ein freundlicher Engel im Dienst der alleinstehenden und hilfsbedürftigen Menschen.

Ja, die Kirchen stehen noch in unseren Dörfern, viele der schweren Türen sind aber abgeschlossen. Wuchtige Monumente jener Zeiten, da sich kaum einer vorstellen konnte, dass die Macht der Kirche einmal schwinden würde. Auch das Wegekreuz, dort an der Straßengabel, steht noch. Verwittert, mit einem Moos- und Algenfilm überzogen, stumme Einladung zur Besinnung.

Dorfschulen, meist ausrangiert, gehören ebenfalls in den Schuhkarton der Erinnerung. Regionale Schulen, richtige Lernzentren, mit angegliedertem Sport- und Freizeitangebot. Ein Lyzeum soll nun dem Kanton eine weitere Dimension in der so wichtigen Domäne der Ausbildung eröffnen. Ob der Staat entschieden genug mitzieht?

Die Bevölkerung hat seit Mitte der 80er Jahren stetig zugenommen. Waren Grundstücke und Immobilien lange Zeit auf Luxemburgs Dachboden relativ erschwinglich, haben sie inzwischen beachtlich zugelegt.

Die Zahl der ländlichen Museen steigt. Binsfeld und Munshausen, zwei Beispiele in Richtung lebendige Dörfer. Mal überwiegt das Didaktische, mal die respektvolle Verneigung vor der Vergangenheit. Um ein kulturelles Glanzlicht ist der Kanton auf jeden Fall zu beneiden: die weltberühmte « Family of Man » von Edward Steichen. Der Geist des Friedens, fortan unser ständiger Begleiter…

Augenscheinlich wird der Wandel beim Betrachten der Fotos von früher. Die Mode ändert, die Technik, die Architektur, die Landschaft. Der Mensch indes ist ganz der alte geblieben. Zumindest im Innern. Das Handeln unserer Spezies war selten von Klugheit und Weitsicht geprägt. Anders herum: wir haben schon viel Mist gebaut. Oder noch anders: der Menschheit Problem ist der Mensch.

Da wäre Innehalten eine lobenswerte Initiative.

Innehalten, auch um über die Zukunft unserer Heimat nachzudenken. Der Wandel im Ösling ist langsam, nur sichtbar, wenn man Jahre überblickt. Doch es liegt zum großen Teil in unserer Hand, wie unsere Region morgen ausschaut. Schön wäre es, wenn für einmal nicht kurzsichtige, materielle Beweggründe unser Handeln diktieren würden. Behutsam planen, sorgfältig abwägen, sich in Weitsicht üben. Die Vokation des Öslings erkennen.

Gerade in unserer bewegten Welt ist es wichtig, Oasen der Stille, Inseln der Ruhe, Reserven für die Natur zu erhalten. Sauerstoff und Kraft für morgen. Denn beide werden wir brauchen.