Léon Braconnier

Unbehagen

Das Franzosennein, das Nein der Holländer und der gescheiterte EU-Gipfel als Abschluss der luxemburger Présidence waren fast das Aus für das Referendum, das als Messlatte der luxemburger EU-Begeisterung auserkoren war. Immerhin, von 1000 waren am Ende 435 Luxemburger gegen die neue Verfassung. Für die in der Vergangenheit immer europabegeisterten Luxemburger ein eher enttäuschendes Resultat. Unser Premier hatte nach dem Gipfel im Juni schon unmissverständlich klar gemacht, dass die EU in einer tiefen Krise steckt. Unbehagen hat sich breit gemacht. Vielleicht ist es nicht nur Europa das kriselt, wie es scheint hat sich ein Graben aufgetan zwischen den Politikern und dem Wählervolk. Auch das fotogene Dauerlächeln und die herzlichen Umarmungen der Staats- und Regierungschefs können nicht länger darüber hinwegtäuschen, dass man sich mit den Jahren auseinandergelebt hat. Fast unbemerkt. Ein großer Teil des europäischen Publikums ist das Polittheater müde. Diesen Entfremdungsprozess darf man nicht länger unter den Teppich kehren. Ob am Ende das Volk die falschen Politiker hat, oder die Politiker das falsche Volk, sei dahingestellt.

Gerade die Europäische Union hat sich von einem Krisengipfel zum nächsten ins Abseits geschaukelt. Es hat zu viele Gipfel der allerletzten Chance gegeben. Zu lange hat man sich dank mehr oder weniger fauler Kompromisse und Extrawürsten über die Runden gequält. Wie viele dieser Einigungen wurden von müden Konferenzteilnehmern zu später oder früher Stunde geschlossen? Und da es Usus ist, sich am Ende der Treffen beim eigenen Volk als Sieger zu feiern, blieben jahrelang nationale Egoismen die wahren Gewinner.

Wie ein Festhalten an den sogenannten Stabilitätskriterien interpretieren, wenn die einen getürkte Bilanzen vorlegen, andere die Kriterien Jahr für Jahr verletzen? Wieso boomt die Wirtschaft in den USA und stottert bei uns? Weshalb zeigen die Briten dem Euro die kalte Schulter? Ist der rapide Erweiterungsprozess nicht doch etwas überstürzt? Will eine Mehrheit der EU-Bürger die Mitgliedschaft der Türkei?

« Dessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing? »¹ titelte am 17. Juni 2005 ein Artikel im Luxemburger Wort (Aus dem Parlament, Abgeordnete mit Regierungskampagne zum Referendum zufrieden; Laurent Zeimet). Das Problem ist in der Tat, dass die Bevölkerung sich schwer tut, die EU-Begeisterung der Politiker zu teilen. Klar ist, zu Europa gibt es keine Alternative. Aber wenn man sich kritisch zu den Mechanismen der Europäischen Union äußert, bedeutet das keineswegs, dass man den Zug zurück ins 19. und 20. Jahrhundert nehmen will. Es muss gestattet sein, kritisch zu hinterfragen, wohlwissend, dass unser gemeinsamer Nenner nur Europa heißen kann. Das heutige Europa mit all seinen Imperfektionen mag das geringste Übel sein, man soll die Ungereimtheiten aber nicht als Fatalität akzeptieren.

Wohlverstanden, es geht hier nicht um Wirtshausgespräche und Populismus. Die Vorlage für die EU-Verfassung ist für die Allermeisten unverständlich und unverdaulich. Eine Verfassung, so ein Text diesen Namen trägt, sollte eigentlich transparent sein. Kein Wunder also, dass laut darüber nachgedacht wird, ob ein komplexes Regelwerk, über das vor allem Juristen Streitgespräche führen können, „Verfassung » heißen soll. Überdies: die Vielzahl der Übersetzungen erleichtert mit Sicherheit nicht die Interpretation des Textes.

Wenn auch manche EU-Bürger Europa im Alltag vermissen, mit dem Euro haben wir alle ein Stück Union in der Hand. Schade nur, dass die neue Währung für viele Verbraucher mit Verteuerung einhergeht, auch wenn die Politiker das entschieden zurückweisen.

Damit wären wir wieder am Anfang unserer Überlegungen. Zwischen den gestressten Akteuren auf der Politbühne und den müden Zuschauern darf der Faden nicht weiter reißen. Die jahrelang eingeölte Dramaturgie reißt niemanden mehr vom Hocker. Im Gegenteil, das Publikum ist überstrapaziert, ist misstrauisch geworden. Leere Versprechen, Sonntagsreden, abgedroschene Phrasen vom Politspeicher, realitätsfremde Ansichten, der Bogen ist überspannt. Der Alltag ist ein anderer. Dass gerade Luxemburgs große Südgemeinden gegen die Verfassung gestimmt haben, ist kein Zufall.

Es gilt nun, einen neuen Anlauf zu nehmen. Die Politik ist gut beraten, den Warnschuss vor den Bug ernst zu nehmen und sich nicht schmollend zurückzuziehen. Politiker sind, zumindest in unseren Ländern, gewählt, nicht geweiht. Dass jetzt allerdings manche Bürger sich darin gefallen, ihren gewählten Vertretern eins ausgewischt zu haben, ist nicht nur deplaziert, sondern schlicht kontraproduktiv.

Wenn Bürger mehr Verantwortung übernehmen sollen, ist es nicht an der Wahlurne getan. Vorher und nachher geht es darum, sich zu Wort zu melden, aktiv an den Entscheidungsprozessen mitzuwirken. Dazu bedarf es einer permanenten Berührung mit der politischen Entscheidungsebene. Die Politiker sollten sich Zeit nehmen und diesen Kontakt mit der Basis suchen.

Im übrigen stehen wir weltweit vor gewaltigen Herausforderungen. Es darf nicht mehr sein, dass ein Indio in Peru nach einem 16-Stunden-Tag einen ganzen US-Dollar verdient hat. Unerträglich ist, dass im Namen von Religion erobert wird, dass Frauen vielerorts Menschen zweiter Klasse sind. Dass die Kinder Afrikas in den Kampf ziehen. Wir müssen aufhören, unseren Planeten zu schinden, seine Natur zu vergewaltigen. Wir sollten bitte Frieden suchen, Frieden stiften. Frieden aber kann es nur geben, wenn es mehr Gerechtigkeit gibt, weniger Armut, weniger Nationalismus. Die Völker Europas haben nicht nur das Zeug, sondern auch die Verantwortung in der Welt eine Rolle zu spielen, eine Hand mit anzupacken. Den Mantel des Unbehagens müssen wir los werden. Dazu muss man allerdings den Mut haben, einiges in Frage zu stellen! Dann, und nur dann, wird es einen neuen Anfang geben.

 

¹Eigentlich müsste es heißen: Wess’ Brot ich ess, dess’ Lied ich sing