Léon Braconnier

Ora pro nobis Bitte für uns

Als man 1954 in Clerf, vor fast 60 Jahren also, das Erntedankfest mit Bischof, Festgottesdienst und Umzug feierte, erschien zeitgleich eine Broschüre. Knapp 10 Jahre nach dem Krieg war die Welt noch in Ordnung, genauer gesagt, da stand die Kirche noch im Dorf. Und wie! Jede Zeile der Festbroschüre preist den Allmächtigen, die irdischen Würdenträger und das tiefgläubige Volk, jede Seite versprüht eine demütige Frömmigkeit, die uns heute doch etwas befremdet. Die Allmacht der Kirche, die Kraft des Glaubens, schienen, zumindest im Osling, fest verankert. Mit der Ewigkeit vermählt.

Doch schon 24 Jahre später, in seinem bemerkenswerten Artikel « Das veränderte Dorf » sollte Tony Bourg schreiben: « Eine Macht ist gebrochen, die des Religiösen, des Absoluten. »

Aber nun hat das Jahrtausend gewechselt, das Schiff Kirche befindet sich in schwerem Gewässer. Hausgemachte Skandale tun ihr Übriges, kratzen in einer immer transparenteren Welt am ohnehin lädierten Image. Es knirscht und ächzt im Gebälk; droht im Spannungsbogen zwischen Tradition und Moderne der schleichende Niedergang?

Wie in der Politik, findet eine zunehmende Entfremdung statt. Manchmal scheint es, als ob das nicht mehr täglich betende Fußvolk den Chefetagen mehr und mehr entgleitet. Die Frage stellt sich, ob die Institution Kirche, in diesem schwierigen Kontext, und im Spagat zwischen Kontemplation und sozialer Mission, ihre Rolle als Hoffnungsträger noch wahrnehmen kann. Zahlreiche Gläubige beteuern, so manche Aussage und Entscheidung der Kirchenoberen nur mit Mühe nachzuvollziehen. Während sich die einen an Tradition und Althergebrachtem festklammern, erwarten andere radikale Einschnitte, was von ersteren wiederum als fragwürdige Konzession an den Zeitgeist verpönt wird. Die Verpflichtung der Geistlichen zum Zölibat, oder der Ausschluss der Hälfte der Menschheit vom Priesteramt, ein unlösbares Dilemma? Als Konsequenz der Starre droht Gleichgültigkeit, eine wachsende Anzahl von Menschen zieht sich zurück. Allein in Deutschland werden zwischen 1990 und 2009 die Kirchenaustritte auf über 6 Millionen beziffert.

Nun hat diese Nummer des Cliärrwer Kanton freilich nicht eine eingehende Auseinandersetzung mit der Situation in der Kirche als Anliegen. Dennoch werfen wir einen Blick auf aktuelle Aspekte in der Welt des Glaubens. Welche Botschaften kommen heute an? Welche Perspektiven öffnen sich? So sind die offenen und alles in allem optimistischen Worte des Clerfer Dechanten Jos Roemen sehr lesenswert.

Wir möchten aber auch erzählen von all dem, was die religiöse Dimension im Landleben des 20. Jahrhunderts ausgemacht hat. Erzählen von der Omnipräsenz der Kreuze, der Engel, der Heiligen, der Geistlichkeit. Sind auch die Kapläne selten geworden, wird auch heute noch fast jedes Dorf von seinem Kirchturm überragt. Aber mit den hohen Windmühlen und den voluminösen Residenzen wächst die Konkurrenz, derweil in den Wohnungen Kruzifixe, Gebetbücher und Rosenkränze auf dem Rückzug sind. Früher das fromme Bild mit der heiligen Muttergottes, sieben Dolche in der Brust, heute der schicke Flachbildschirm, gerüstet für HD und 3D. Viele Kirchenfeste sind längst von kommerziellen Interessen untergraben, zum Spektakel, zur Show degradiert, zur Zielscheibe kamerabewaffneter Mitmenschen.

Die Zeiten ändern sich schnell und schneller. Der Alltag wird von einem rasanten technischen Fortschritt geprägt, immer kürzere Lebenszyklen in Elektronik und Informatik treiben willige, scheinbar hilflose Konsumenten vor sich her. Oberflächiges und Firlefanz kennzeichnen vermehrt die Interessen einer Spaßgesellschaft. Droht das Spirituelle gänzlich auf der Strecke zu bleiben? Wie auch immer, die Architektur der Bevölkerung hat sich verändert, und diese Metamorphose bettet die Gesellschaft auf neue Fundamente. Das blinde Vertrauen in jahrhundertalte Strukturen schmilzt wie Gletschereis.

Eingangs zitierten wir Tony Bourg mit « eine Macht ist gebrochen ». Aber nicht nur die Macht der Kirche ist angeknackst. Unser blauer Planet ist gläsern geworden. Viele Mächte taumeln, werden kritisch hinterfragt. So manche Autorität, so manche Referenz geht den Krebsgang. Die Finanz- und die Wirtschaftswelt sind im Gerede, die Welt des Sports längst angezählt, die Macht der Götter in Weiß angezweifelt, die Pharmaindustrie erscheint in ungesundem Zwielicht. Auch das Ansehen der Politik ist im Sturzflug, verschiedene Akteure auf dem internationalen, ja europäischen Parkett, stehen dem Clown näher als dem Staatsmann. Unaufhaltsam weichen Werte den Interessen, die Gier nach Geld, Macht und Prestige feiert Triumphe.

So gesehen erscheinen etliche der folgenden Seiten wie Zeugen einer anderen Zeit. Sie sind es. Souvenirs aus Zeiten, in denen Weiß und Schwarz noch klar definiert waren. Für heutige Begriffe vielleicht zu klar. Aber jede Vergangenheit hatte ihre Werte und Reichtümer, oft langlebiger als die heutigen. Absage an die Nostalgie, aber das Erinnern, auch das Erinnern an einfache Dinge, kann sehr wohl Quelle von Glück und Frieden sein. Erinnerungen verblassen, die Objekte bleiben. Und dann ist er da, der magische Moment wo man mit allen Sinnen die Vergangenheit fühlt, die eigene Geschichte. Beim Betrachten der vielen Fotos dieser Nummer erkennt man sicher einiges Vertraute. Und vielleicht merkt man, dass man mit diesem oder jenem befreundet war.

Wir leben im « Zeitalter der Beschleunigung der Geschichte » (Tony Bourg, 1978). Da tut es gut, einen Moment inne zu halten. Vielleicht mit diesen Seiten in der Hand. Denn so oder so, es bleibt spannend. Wir kennen nicht die Pläne des Allmächtigen, wissen nicht, wie unser Morgen aussieht. Klar ist aber, auch wir haben es in der Hand. Ora pro nobis.