Léon Braconnier
Bewegte Zeiten
Urplötzlich rumorte es in Tunesien, steckte Ägypten an, Bahrain, dann war Libyen an der Reihe. Der Jemen. Syrien, Saudi-Arabien? Wer will schon eine Prognose wagen, wie der Reigen weitergeht? Es köchelt und brodelt gewaltig auf dem Vulkan Erde, in Zeiten elektronischer Kommunikation wächst die universelle Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit und Frieden. Manchmal ist es, als ob die Sterne sie säten. Und beim ersten Strahl der Sonne keimt dann diese Sehnsucht, ein scheinbar zartes Pflänzchen, das dann aber mit aller Macht ausbricht.
Dank Internet, Facebook, Twitter und Geschwister fliegt die Kunde von neuen Aufständen in Windeseile um den Erdkreis. Plötzlich scheint sie wie weggezaubert, die jahrzehntelange, lähmende Furcht vor Geheimdiensten, paramilitärischen Milizen, die Angst vor Gefängnis, Folter und Tod. Die Menschen trauen sich in den öffentlichen Raum, nehmen das Risiko in Kauf. So werden Straßen und Plätze, deren Name einst nur den Einheimischen und etlichen Touristen bekannt war, in Stunden zu weltbekannten Symbolen der Hoffnung.
Doch wie viele Plätze des himmlischen Friedens, wie viele Tahrir Plätze wird es geben müssen, bevor sich weltweit demokratische Grundwerte herauskristallisieren?
Auch wenn sich zurzeit vor allem die arabische Welt in einem hoffentlich zu kontrollierenden Wandel befindet, repressive Regimes sind unter den vielen Himmeln der Erde fürwahr keine Mangelware. So gedeiht unter Afrikas Sonne nicht nur eine außergewöhnliche Tier- und Pflanzenwelt, auch blutrünstige Diktatoren blühen prächtig und viel zu lange.
Die Welt scheint am Scheideweg. Wieder einmal. Unter Todesgefahr stellen sich Millionen für eine bessere Welt auf; ob sich ihre Hoffnung erfüllt? Wird es dem Riesenreich China gelingen, sich möglichst gewaltfrei in Richtung Demokratie zu orientieren? Von vielen als Vorbild angesehen, Europa. Aber das so inspirierende Europa, auch die Nato, demonstrieren minimale Einheit, kaum Entschlossenheit, erinnern aber umso mehr an den römischen Feldherrn und Senator Quintus Fabius Maximus Verrucosus, genannt Cunctator (= der Zögerer). Unterzeichneter hat sich in der Vergangenheit doch gewundert, dass ein finster blickender Zeitgenosse aus Tripolis nebst Kameltross und vollbusiger Amazonengarde allzu langer Zeit in Paris, Moskau und Rom mit allen Ehren empfangen wurde, gar mit privatem Campingplatz für die mitgebrachten Zelte. Allerdings muss man anerkennen, dass der Umgang mit so manchem Machthaber eine Gratwanderung darstellt, dass politische Konstellationen mitunter nur schlechte Alternativen zulassen. Dass milliardenschwere Deals, auch Waffengeschäfte, so manche Waage beeinflussen. Die brave Presse vergewissert sich aber stets, ob denn beim Chinabesuch auch die Menschenrechte andiskutiert wurden. Und dann nicken alle nett in Kameras und bestätigen freundlich, man habe natürlich die Pressefreiheit und die Rechte der Menschen nicht ausgespart. Und siehe, alles löst sich in allgemeinen Wohlgefallen auf.
Diese Zeilen waren schon geschrieben, da wurde das Land der aufgehenden Sonne von furchtbarsten Katastrophen heimgesucht. Erdbeben, Tsunami, Atom-Gau, der fünfte apokalyptische Reiter? Wieder einmal musste der Mensch sein Haupt senken, erkennen, wie hilflos er den immensen Kräften ausgeliefert ist, die die Natur an ihren Tagen des Zorns entfesselt. Die Risiken der Nuklearenergie offenbarten sich auf schreckliche Weise. Und, muss der Albtraum radioaktiver Verstrahlung nicht gerade in Japan unerträglich sein?
Was aber haben diese Sätze mit dem Cliärrwer Kanton zu tun? Nun, seit 2004 hat die UNESCO die im Clerfer Schloss befindliche Family Of Man in das Register „Mémoire du Monde » aufgenommen. Die Family of Man, entstanden in den Jahren des kalten Krieges, war historisch, ist aktuell eine vorzügliche Missionarin im Dienst der Menschlichkeit. 503 Fotografien belegen eindrucksvoll, dass alle Menschen auf Erden eine Familie sind. Die geduldige Fabrikarbeiterin in Guangzhou, der Bergführer auf der Feuerinsel, der Philippino, der ein so karges Leben in Dubai führt, die tapferen Frauen in Teheran, des Diktats der alten Mullahs längst überdrüssig, alle, Du und ich, wir sind 2011 eine Familie und wir haben die gleiche Erwartung an das Leben, träumen von Freiheit, von Glück und Liebe, von Erfüllung. Gleichwohl die Family of Man bis nächstes Jahr geschlossen bleibt, es bleibt zu hoffen, dass sich bis zur Wiedereröffnung so mancher in unserem Land endlich bewusst wird, welch ein Schatz in den alten Schlossmauern lagert. Mehr als je brauchen die Menschen Bilder als Orientierung und Inspiration. Zugegeben, manche von uns flüchten vor der tagtäglichen Bilderflut unserer medialen Zeit. Da tut es gut, wenn sich stille Fotos in stillen Räumen in unserem Gedächtnis verewigen. Im gleichen Atemzug sollte man die in der Cité de l’lmage seit einigen Jahren gastierende, sehr beeindruckende Expo „Worid Press Photo » erwähnen. Nicht zuletzt durch Unruhen, Revolten, Kriege, Naturkatastrophen, Nuklearunfälle wird es 2011 eine besonders reichhaltige Auswahl an ergreifenden und verstörenden Aufnahmen geben. Leider.